Michael Hanekes Schaffen hallt in Cannes nach

Michael Haneke mit Isabelle Huppert.
Michael Haneke mit Isabelle Huppert.APA/AFP/LOIC VENANCE
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Im Wettbewerb handeln viele Filme von bitteren Dingen: Lieblosigkeit, Entfremdung, Selbstbetrug – oft im bürgerlichen Milieu.

Wäre Michael Haneke heuer nicht in Cannes vertreten, wäre er trotzdem präsent. Die Arbeiten des österreichischen Regieveteranen haben sich ins Bewusstsein des modernen Weltkinos eingraviert und viele Filmemacher nachhaltig beeinflusst. Ihre kühle und doch beißende Gesellschaftskritik, der distanzierte, nahezu soziologische Blick, die gnadenlosen Sektionen bürgerlicher Scheinwelten: All das traf einen Nerv, der immer noch schmerzt – vielleicht sogar stärker als zuvor. Auch von Hanekes imposanter Formstrenge geht ungebrochen Faszination aus. Sie hat viele Nachahmer gefunden – doch billige Kopien sind inzwischen leicht als solche erkennbar. Wenn schon das Vorbild in seinem neuen Film „Happy End“ zum Selbstzitat greift, ist klar, dass Epigonen sich dies nicht mehr in dieser Direktheit erlauben können.

Doch der Wettbewerb der diesjährigen Filmfestspiele in Cannes hat gezeigt, dass (bewusste oder unbewusste) Haneke-Hommagen unterschiedlichste Formen annehmen können. Sie äußern sich ästhetisch, inhaltlich oder in vereinzelten Kunstgriffen, sie verfremden die Motivik des Österreichers oder spielen mit ihr, entwickeln sie weiter oder ziehen sie ins Lächerliche. Ein Beispiel: Der Schwede Ruben Östlund.

Seine Filme sind Versuchsanordnungen sozialer Peinlichkeit. Er steckt seine Figuren wie Laborratten in ungemütliche Situationen und zwingt sie, ihren Selbsttäuschungen ins Gesicht zu blicken. Sein jüngster Film heißt „The Square“. Der Titel bezieht sich auf ein Kunstprojekt, das der erfolgreiche Museumsdirektor Christian (Claes Bang) in Stockholm geplant hat. Ein kleiner, quadratischer Platz in aller Öffentlichkeit, wo Empathie und Rücksichtnahme herrschen sollen, ein Mahnmal für den Sozialvertrag in einer Blütezeit des Egoismus.

Doch wie Östlund in seiner (über-)ambitionierten Parabel demonstriert, ist Christian selbst alles andere als ein strahlendes Vorbild in Sachen Mitgefühl. Nachdem seine Brieftasche gestohlen worden ist, verstrickt er sich beim Versuch, sie zurückzubekommen, immer tiefer in ein Gestrüpp aus Widersprüchen zwischen Wort und Tat, erweist sich als wohlmeinendes, aber feiges und selbstverliebtes Würstel, dem Statuserhalt über alles geht und dessen größte Angst darin besteht, sich angreifbar zu machen. „The Square“ arbeitet mit langen, präzise kadrierten Sequenzen, die oft vom Hochkomischen in lähmende Zerknirschung kippen. Im Grunde ist es ein Film über den Schuldstich, den der Wohlstandsmensch empfindet, wenn er auf der Einkaufsstraße an einem Bettler vorbeiflaniert. Eine bourgeoise Blindheit, die auch Hanekes „Happy End“ thematisiert – wenngleich das schlechte Gewissen dort weitgehend verkümmert ist.

Der Grieche Yorgos Lanthimos hebt diesen Topos in „The Killing of a Sacred Deer“ ins Allegorische: Ein Chirurg und Familienvater (Colin Farrell) wird aufgrund früherer Vergehen vor eine unglaubliche (und unmögliche) Wahl gestellt. Hanekes „Vergletscherungs“-Visionen standen schon immer an der Schwelle zum Horrorkino. Lanthimos überschreitet sie und stürzt den Zuschauer in einen klinischen Alptraum, der bei aller Apathie und Absurdität von Ethik und Verantwortung erzählen will.


Flucht vor der Lieblosigkeit. Doch selbst sein Menschenbild wirkt kuschelig, vergleicht man es mit der Ehehölle aus Andrey Zvyagintsevs unmissverständlich betiteltem „Loveless“. Ein russisches Paar steht kurz vor der Scheidung. Von Anfang an spürt man, dass sie sich nie wirklich nahestanden. Der wahre Leidtragende ihrer toxischen Streitigkeiten ist ihr zwölfjähriger Sohn, der irgendwann aus Verzweiflung die Flucht ergreift. Die Suche nach dem Ausreißer bietet Zvyagintsev Gelegenheit für ein Gesellschaftsporträt, dessen Lichtblicke nur der Betonung der Finsternis dienen. In Stein gemeißelte Edelbilder stützen die schreckliche Unausweichlichkeit der Ereignisse; doch wo „Leviathan“, der letzte Film des Regisseurs, eine politische Wut in sich trug, bleibt hier nichts als Verbitterung über die desolaten Zustände. Wer keine Liebe kennt, hat kein „Happy End“.

Die Epigonen

Ruben Östlundthematisiert in „The Square“ bourgeoise Widersprüchlichkeit.

Yorgos Lanthimos will in „The Killing of a Sacred Deer“ von Ethik und Verantwortung erzählen.

Andrey Zvyagintsevs„Loveless“ über eine Ehehölle hinterlässt nichts als Verbitterung.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.05.2017)

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