Ich hör die Absätze klappern

Er ist nicht nur der wichtigste lebende Dichter in jiddischer Sprache, er ist auch einer der großen Dichter des 20. Jahrhunderts: Abraham Sutzkever. Nun kann man ihn endlich auch auf Deutsch entdecken.

Er ist nichts weniger als der größte lebende Dichter in jiddischer Sprache; und er hat das eindringlichste Gedenken an die Ermordung der Juden in der litauischen Hauptstadt Vilnius verfasst: Abraham Sutzkever. Und doch kann man das alles erst jetzt auf Deutsch lesen. Der schmale zweisprachige Gedichtband „Grünes Aquarium“ und einige Texte in Anthologien – mehr gab es bisher nicht. Nun präsentieren drei Bücher einen Querschnitt durch sein Werk: Gedichte und Prosa von weltliterarischer Bedeutung und einzigartiger Zeugenschaft.

Kein Wunder, dass das in Vilnius (Wilna) seinen Anfang nahm. Denn diese Stadt war seit Jahrhunderten das „litauische Jerusalem“. Hier hatte im 18.Jahrhundert der berühmte Gaon, Elijahu ben Schlomo Salman Kremer, gelehrt, der als größter Bibel- und Talmudkenner seiner Zeit galt. Die 1789 gegründete Druckerei Romm war zeitweise die größte jüdische Druckerei der Welt und ab 1836, einem Erlass des Zaren zufolge, eine der beiden einzigen jüdischen Druckereien, die im gesamten Zarenreich existieren durften. Sie brachte zahlreiche Publikationen auf Hebräisch und Jiddisch heraus. Von hier stammt auch Eliezer Ben-Jehuda, der Vater des heute in Israel gesprochenen Hebräisch. Vor allem aber war Jiddisch, das allzu oft auf Schtetl-Folklore reduziert wird, in Vilnius nicht die Sprache einer Nische jüdischen Lebens; hier, wo am Vorabend des Zweiten Weltkriegs ein Drittel der Bewohner jüdisch war, konnte jeder Lebensbereich in Jiddisch oder Hebräisch abgebildet werden.

Eine große Rolle spielte das Yivo, das „Yidisher Visnshaftlekher Institut“, das 1925 bis 1939 von dem berühmten Jiddischisten Max Weinreich geleitet wurde und bis heute in New York weitergeführt wird. Max Weinreich war der Lehrer von Abraham Sutzkever, der 1913 in dem kleinen, heute weißrussischen Städtchen Smorgon geboren wurde, und den es 1915 im Zuge des Ersten Weltkrieges mit seiner Familie nach Omsk in Sibirien verschlagen hat, von wo der Siebenjährige nach dem frühen Tod des Vaters mit seiner Mutter in das damals polnisch besetzte Vilnius kam. Er hatte wenig Zeit, sich zum Dichter zu entwickeln, bevor Nazideutschland 1941 Litauen besetzte und mit der Ermordung von etwa 200.000 Juden begann. Sutzkever konnte sich zunächst verstecken, lebte dann im Ghetto von Vilnius und floh 1943 zu den Partisanen.

Viele Dokumente und Zeugnisse sind mittlerweile auf Deutsch über das Ghetto von Vilnius zu lesen, und der israelische Dramatiker Joshua Sobol hat es in seinem weltberühmten und mittlerweile verfilmten Stück „Ghetto“ auf die Bühne gestellt. Doch Sutzkevers Bericht, der in quälender Genauigkeit bei den Einzelheiten bleibt, ist einzigartig. Seine Mutter ist im Ghetto ermordet worden, auch sein neugeborener Sohn – noch bevor er ihn sehen konnte.

Protokolliert, was er gesehen hat

Wie Sutzkever den eigenen Schmerz zurückhält, verstärkt diesen im Leser. Und mit
den vielen, die er zu Wort kommen lässt, schafft er ein Bild des „Systems“ des Naziterrors, ohne die einzelne Stimme einzuebnen in ein Meer des Grauens. Er berichtet von vielen Versuchen, Menschen und jüdisches Kulturgut zu retten; und gegen das bis heute anzutreffende Klischee von den Litauern als willige Helfershelfer der Nazis zeichnet er ein differenziertes Bild, zu dem nicht nur die „Chapunes“ (Greifer) gehören, die Juden überall aufspürten, sondern auch diese Tatsache: „Viele Polen und Litauer haben bei sich in den Wohnungen Juden versteckt.“

Sutzkever weiß dafür genügend Beispiele und Namen. Doch er erspart dem Leser das Entsetzen nicht, er protokolliert, was er gesehen und gehört hat: „Als man die 400 Juden aus Wajwari herbrachte – Männer, Frauen und Kinder –, fand sich unter ihnen eine schwangere Frau, die nun gebären musste. Die Frau hat man zusammen mit allen anderen erschossen. Als ihre Körper noch warm waren, trug man die Toten zum Scheiterhaufen, um sie zu verbrennen. Alle waren sie nackt. Auf der Brust der schwangeren Frau rieselte ein Schnürchen Blut. Ihre Augen waren offen. Es sah aus, als ob sie lebte. Als die Frau von den Feuerzungen umfangen wurde, schwamm aus der Gebärmutter das Kind heraus. Eine weiße Flamme umarmte das Kind und vereinte sich mit den Feuerzungen.“ Mehr als einmal ist man außerstande weiterzulesen. Doch was der Nationalsozialismus und die Ermordung der Juden bedeutet haben, erfährt man nicht aus Zahlen, sondern aus diesen Todesgeschichten.

Dass Sutzkever dieses Buch überhaupt schreiben konnte, verdankt er seinem Poem „Kol Nidre“, das nach Moskau geschmuggelt werden konnte. Dort bekam es der sowjetische Schriftsteller Ilja Ehrenburg in die Hände, der bewirkte, dass Sutzkever mit seiner Frau aus den Wäldern mit einem kleinen Militärflugzeug nach Moskau gebracht wurde. Er sollte an einem Schwarzbuch mitarbeiten, das die Leiden und Kämpfe der Juden in der Sowjetunion dokumentierte. Doch der stalinistische Antisemitismus verhinderte das, es erschien erst in den 1990er-Jahren in verschiedenen Ländern – zuerst auf Deutsch. Sutzkever konnte sein Buch in einer zensurierten Fassung 1946 in Moskau und in Paris veröffentlichen. Und er war ein wichtiger Zeuge bei den Nürnberger Prozessen. Der Österreicher Franz Muhrer, der „Schlächter von Vilnius“, den Sutzkever dabei belastete, wurde übrigens später infolge des Staatsvertrages von der Sowjetunion an Österreich übergeben, hier jedoch nicht zur Verantwortung gezogen. Simon Wiesenthal spürte ihn auf, doch Muhrer wurde 1963 in einem spektakulären Prozess in Graz freigesprochen. Er wurde problemlos ÖVP-Mitglied und Obmann der Bezirksbauernkammer Liezen.

Das Poem „Kol Nidre“ ist in dem von Hubert Witt herausgegebenen Band „Gesänge vom Meer des Todes“ enthalten, den der Ammann Verlag in derselben Ausstattung wie „Wilner Getto 1941–1944“ herausgegeben und in einem Schuber zum „Wilner Diptychon“ vereinigt hat. Gedichte hat Sutzkever Zeit seines Lebens geschrieben: als Schüler und Student, im Ghetto von Vilnius und in zahlreichen lebensrettenden Verstecken, als Partisan in den Wäldern und dann ab 1947 in Tel Aviv; sein letztes datiertes Gedicht entstand im Jahr 2000. Bereits 1937 erschienen im Warschauer PEN-Club seine ersten Gedichte (wozu eine zufällige Begegnung Sutzkevers mit Joseph Roth in Vilnius beigetragen hat), und so beginnt auch der Ammann-Band mit der „Nocturne“ von 1934, enthält zentrale Gedichte der Zeit im Ghetto und wesentliche Beispiele seines Schaffens bis 1987.

Man müsste dankbar sein für diese deutsche Gedichtauswahl nach so vielen Jahren, wäre nicht zeitgleich die Sutzkever-Auswahl von Peter Comans erschienen, die aus unverständlichen Gründen bisher weniger Aufmerksamkeit gefunden hat, aber in fast jeder Hinsicht besser ist: „Geh über Wörter wie über ein Minenfeld“. Das beginnt damit, dass er fast alle erschienenen Lyrikbände Sutzkevers und alle Prosabücher berücksichtigt. Vor allem aber ist die Übersetzung von Comans derjenigen von Witt in fast allen Fällen vorzuziehen, weil sie oft den Rhythmus und vor allem den Reim besser wiedergibt. Da ist etwa das Gedicht „Ein Wagen Schuhe“, dessen Refrain bei Witt lautet: „Es klappern all die Sohlen:/wohin, wohin, wohin?/Aus alten Wilner Gassen/ treibt man uns nach Berlin.“ Bei Comans klingt das so: „Ich hör die Absätz klappern:/ wohin, wohin, wohin?/Aus alten Wilner Gassen/treibt man uns nach Berlin.“ Das Gedicht gibt eine reale Situation wieder: Sutzkever sah, wie die Schuhe ermordeter Juden ins Ghetto zurückgebracht wurden und: „Ich find bei all dem Leder/der Mutter Schuh, die besten,/die trug sie hin und wieder/an Sabbat nur und Festen.“ Die lapidare Verknappung des Unfassbaren, der liedhafte Tanz um den äußersten Schrecken– das macht Sutzkever keiner nach.

Die Auswahl des Campus Verlages beginnt mit der poetischen Gestaltung des Sibirien-Erlebnisses der Kindheit, das Sutzkever selbst an den Anfang seiner Dichtung gestellt hat. Die frühe Lyrik – und leider nur diese – ist hier auch zweisprachig wiedergegeben, und mit der nebenstehenden deutschen Übersetzung ist das transkribierte Jiddisch gut lesbar. Dabei werden freilich auch Schwächen sichtbar: Auch Comans verfällt gelegentlich in den Fehler, der bei Witt nahezu die Regel ist – nämlich, Reime nur dort nachzumachen, wo es gerade gelingt, und sich um die Grundsatzentscheidung zu drücken: ein streng gereimtes Gedicht auch so zu übersetzen oder auf den Reim zugunsten anderer poetischer Elemente zu verzichten. Die Auswahl von Comans aber macht noch viel stärker deutlich, wie Sutzkevers poetischer Blick sich auf Israel, ja auf die ganze Welt richtet (auch afrikanische Landschaften tauchen auf), aber immer wieder zum Totengedenken zurückkehrt.

Der Grashalm von Ponar als Gabe

Noch 1980 dichtet er über einen Grashalm aus Ponar – aus dem Wald am Stadtrand von Vilnius, wo 100.000 Menschen ermordet wurden, darunter 70.000 Juden: „Und steh ich vor dem Herrn, bring ich ihm eine Gabe dar:/den Grashalm von Ponar.“ Gerade auch die Prosa thematisiert, inmitten ihres Ausgreifens in fantastische und märchenhafte Sphären, die Rolle Sutzkevers als eines Überlebenden: „An einem Abend während der Zeit des großen Schlachtens saß ich in einer dunklen Stube und schrieb. Als hätte der Engel der Dichtkunst mir anvertraut: ,In deinen eigenen Händen liegt die Wahl. Wenn dein Gesang mich begeistert, werde ich dich mit einem Flammenschwert beschützen, wenn nicht – sollst du nicht hadern. Mein Gewissen wird rein bleiben.‘“

Auch die Person Abraham Sutzkever bekommt in dem Band „Geh über Wörter wie über ein Minenfeld“ deutlichere Konturen: durch Fotos, die ihn unter anderem mit seinem Freund Marc Chagall (der auch selbst jiddische Gedichte geschrieben hat) zeigen, durch Zeichnungen aus seiner Feder und durch umfangreiche Einleitungen in seine Lyrik und Prosa. Die Lyrikeinleitung stammt von Heather Valencia, die im Nachwort als Sutzkever-Forscherin von der University of Stirling gepriesen wird. Leider hat der Dame bis heute niemand mitgeteilt, dass Litauen von 1918 bis 1940 ein eigener Staat war; so posaunt sie ihre abstruse Vorstellung, Litauen sei bis zur sowjetischen Okkupation ein Teil Polens gewesen, gleich drei Mal hinaus. Dass so etwas möglich ist, illustriert nicht nur die Qualitäten des englischen Bildungssystems, sondern auch, dass der auf jüdische Geschichte spezialisierte Campus Verlag über kein Lektorat verfügt, das diesen hanebüchenen Unsinn bemerkt. Dass der sowjetlitauische Präsident Litauens, Justas Paleckis, den Vornamen Justis bekommt, ist da schon nur mehr eine Kleinigkeit; aber wer weiß, welche Details sonst noch falsch sein mögen in einer solchen Einleitung.

Hätten sich die beiden Herausgeber und Übersetzer zusammengetan, was für eine wunderbare deutsche Sutzkever-Ausgabe hätte da entstehen können! Doch trotz aller Einschränkungen machen die drei Bücher deutlich, dass hier ein einzigartiger Zeitzeuge spricht, der den Holocaust auch dann nicht Vergangenheit werden lässt, wenn seine letzten Überlebenden tot sein werden. Und einer der großen Dichter des 20.Jahrhunderts. ■

SUTZKEVER: Die neuen Bücher

Abraham Sutzkever: Wilner Getto 1941–1944. Aus dem Jiddischen übertragen von Hubert Witt. 270 S., geb., €23,60 (Ammann Verlag, Zürich).

Abraham Sutzkever: Gesänge vom Meer des Todes. Ausgewählt und aus dem Jiddischen übertragen von Hubert Witt. 190S., geb., €23,60 (Ammann Verlag, Zürich).

Abraham Sutzkever: Geh über Wörter wie über ein Minenfeld. Lyrik und Prosa. Auswahl. Aus dem Jiddischen von Peter Comans. 390 S., geb., €35,90 (Campus Verlag, Frankfurt/Main).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.11.2009)

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