Wien Mitte: zum Finale einer unendlichen Geschichte

Wien Mitte
Wien Mitte(c) Clemens Fabry
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Wie man sich bei einem Großprojekt die Umweltverträglichkeitsprüfung erspart. Wie man schwer vermittelbare Kuba- turen doch noch lukrativ verwertet. Und was das mit dem politischen Wind an der Donau zu tun hat.

Im Unterschied zu manch anderem Großprojekt der vergangenen Jahre, vornehmlich an der Wiener Peripherie, zweifelt niemand an der Richtigkeit einer Neuüberbauung des unterirdischen Bahnhofs Wien Mitte. Immerhin ist dieser zentrumsnahe, jedoch jahrelang vernachlässigte Standort im dritten Bezirk einer der besterschlossenen der Stadt. So beauftragte das Stadtplanungsamt Mitte der 1980er-Jahre Architekt und Stadtplaner Roland Rainer sowie Verkehrsplaner Hermann Knoflacher mit einem Bebauungskonzept. Entsprechend den Vorgaben des Stadtentwicklungsplans, der für das 17.000 Quadratmeter große Areal städtebauliche Geschlossenheit sowie maßvolle Verdichtung vorsah, entwarfen sie eine dem Umfeld angepasste achtgeschoßige Verbauung mit einer Shoppingmall, Büros und Terrassenwohnungen.

„Davon wurde jedoch kaum etwas verwirklicht, weil es zu wenig Gewinn versprach“, weiß der damalige Planungsbeamte Georg Kotyza. „Die ÖBB als Grundeigentümer und die potenziellen Bauträger spekulierten auf weit größere Gebäudehöhen.“ So kam es 1990 zu einem alternativen Entwurf durch die Architekten Laurids und Manfred Ortner. Als Developer fungierte schon damals ein Konsortium um die spätere Bauträger Austria Immobilien GmbH (BAI) – indirekt eine Tochter der Bank Austria. Die gilt trotz mehrfacher Verkäufe an internationale Großbanken bis heute als Teil des leidlich transparenten Wirtschaftsnetzwerks der Wiener Sozialdemokraten. Das neue Projekt sah zunächst neun Hochhäuser vor, die sich im Zuge mehrerer Überarbeitungen auf fünf reduzierten – mit Höhen von 57 bis 75 Metern. Kamen Rainer und Knoflacher auf 94.000 Quadratmeter Bruttogeschoßfläche, so erzielten Ortner & Ortner nun 110.000 Quadratmeter. Bis 1993 erfolgten weitere Abänderungen sowie schließlich die Umsetzung in einen Flächenwidmungs- und Bebauungsplan. Zum Baubeginn kam es dennoch nicht, da Mitte der 1990er-Jahre infolge der EXPO-Absage die Büromieten in Wien stark gesunken waren.

Anfang 1998 überraschte der Investor die Planungsbehörde mit einem 120-Meter-Hochhaus, 1999 hielt man bei vier und dann wieder sechs Türmen. Vom ursprünglichen Ortner-Entwurf war inzwischen nichts mehr zu erkennen, die erzielte Gesamtnutzfläche von 136.000 Quadratmetern schien jetzt aber den ökonomischen Anforderungen der BAI zu entsprechen. Dazu wurden auch die 1993 fixierten Wohnflächen im Umfang von 25.000 Quadratmetern gestrichen und im Gegenzug die kommerziellen Flächen ausgeweitet. Der auf Basis dessen entworfene zweite Flächenwidmungs- und Bebauungsplan führte bei seiner öffentlichen Auflage im Oktober 1999 umgehend zu massiven Protesten und in der Folge zur Gründung einer Bürgerinitiative.

Dennoch beschloss der Wiener Gemeinderat im Mai 2000 die neue Flächenwidmung für das inzwischen abermals veränderte Projekt, bestehend aus einem 42 Meter hohen Sockel (allein dieser wäre laut Wiener Bauordnung ein Hochhaus) und vier – teilweise darauf aufgesetzten – Hochhäusern: drei mit je 87 Metern und eines mit 97 Metern. Neben einer neuen Bahnhofshalle und sonstigen Flächen für den Bahnbetrieb waren an Nutzungen ein Einkaufszentrum mit28.000 Quadratmetern, Gastronomie, Freizeiteinrichtungen, ein Hotel mit 340 Zimmern, Parkgaragen und vor allem 45.000 Quadratmeter Bürofläche vorgesehen.

Die Bedenken der Bürgerinitiativegegen das voluminöse Bauvorhaben fanden keinerlei Berücksichtigung, obwohl sie von einer Vielzahl prominenter Unterstützer – darunter Wiens Altbürgermeister Helmut Zilk – mitgetragen wurden: Würde das ohnehin schon dicht bebaute Viertel diese zusätzlichen Baumassen vertragen? Hieße eine durchgehende Baublockhöhe von mindestens 42 Metern nicht eine Entwertung vieler benachbarter Häuser? Würde noch weiterer Autoverkehr in das verkehrsbelastete Viertel drängen? Und könnte der Einzelhandel in der nahen Landstraßer Hauptstraße tatsächlich gegen das geplante Shopping Center bestehen?

Unverhoffte Unterstützung erhielten die Proteste im Dezember 2001, als die Unesco auf Antrag der Stadt Wien die historische Innenstadt zum Weltkulturerbe erklärte – und eine Pufferzone um den ersten Bezirk auswies, in der bauliche Veränderungen mit Sensibilität erfolgen sollten. Die Stadtregierung war davon ausgegangen, dass das Projekt Wien Mitte, das in besagter Pufferzone lag, von dieser Auflage nicht mehr betroffen sei, da es bereits genehmigt war. Dennoch forderte das Welterbekomitee ein Überdenken der Höhe und des Volumens der geplanten Bauten und drohte, dass das historische Zentrum andernfalls seinen Status als Weltkulturerbe wieder verlieren könne.

Im Rathaus zeigte man sich von der immer heftigeren Kritik unberührt und erteilte im Sommer 2002 nicht nur die Baugenehmigung für Wien Mitte, sondern gab überdies dem Ersuchen des Bauträgers um Erlassung der Umweltverträglichkeitsprüfung statt. Gewohnt machtbewusst verwies Bürgermeister Michael Häupl auf den fortschreitenden Niedergang des Bahnhofskomplexes und postulierte: „Ich will dieses Projekt. Der jetzige Sauhaufen muss weg.“

Nicht zum ersten Mal verknüpfte Häupl damit das private Bauvorhaben mit der überfälligen Aufwertung des Bahnterminals (O-Ton: „ein Ratzenstadl“) – als hänge es von der Gunst eines Investors ab, ob der meistfrequentierte Bahnhof und einer der wichtigsten U-Bahn-Knoten Wiens den mehr als 100.000 Fahrgästen pro Tag angemessenen Service bieten könne oder nicht. Dabei lag es in der Verantwortung der ÖBB und des Rathauses, dass dieser Standort dermaßen verkommen war – und genauso wären beide auch für seine Neugestaltung zuständig.

Mit der Zeit nagte der imageschädigende Protest aber an der Standfestigkeit des Bauwerbers, zumal die bisherige Opposition aus vorwiegend konservativen Kräften nun auch Unterstützung von namhaften Wiener Architekten sowie der Professorenschaft der Technischen Universität erhielt. So gab es nach Langem die ersten Kompromissvorschläge der BAI, die für das Unternehmen allerdings kostenneutral bleiben sollten: Würden die ÖBB als Grundeigentümer auf den geforderten Baurechtszins von 700.000 Euro pro Jahr verzichten, könnte Wien ein Stückchen seiner edlen Silhouette retten.

Kurz darauf zeigte sich der Investor sogar bereit, das Projekt gegen eine Entschädigung in Höhe eines großen zweistelligen Millionenbetrags an den Maßstab des benachbarten, 65 Meter hohen Hilton anzupassen. „Der, der eine Reduktion der Türme will, muss auch dafür zahlen“, betonte BAI-Direktor Maximilian Weikhart, ein Schwergewicht in der Wiener SPÖ. Die Rathausopposition war über so viel Chuzpe empört, zumal die Stadt dem Developer laut Berechnungen des Immobilien-Experten und ÖVP-Gemeinderats Alexander Neuhuber allein schon durch die gefällige Flächenwidmung eine Wertsteigerung in Höhe von etwa 300 Millionen Euro beschert habe.

Als das Konsortium um die BAI schließlich drohte, das gesamte Projekt aufzugeben, schaltete sich das Stadtoberhaupt erneut wortgewaltig ins Geschehen ein – und bezeichnete die Gegner von Wien Mitte gar als „potenzielle Mörder“ des Projekts. Im März 2003 gab BAI-Direktor Weikhart dann tatsächlich bekannt, vom Projekt aus wirtschaftlichen Gründen zurückzutreten, da es unter den vom Welterbekomitee geforderten Rahmenbedingungen finanziell nicht darstellbar sei. „Das Weltkulturerbe diente der BAI lediglich als Ausrede“, unterstellt der pensionierte Jurist Helmut Hofmann, Sprecher der überparteilichen Bürgerinitiative Wien Mitte. Der wahre Grund für die Aufgabe liege vielmehr darin, dass sich keine Großmieter für die geplanten Büros gefunden hätten. „Natürlich ist es angenehmer zu sagen, die Unesco ist schuld, als zu bekennen, dass man sich verkalkuliert hat“, so Hofmann. Denn 2003 war bereits absehbar, dass der jahrelange Büroboom seinen Höhepunkt bald überschreiten würde. Angesichts einer halben Million Quadratmeter leer stehender – und günstigerer – Büroflächen in der Stadt wären 45.000 zusätzliche Quadratmeter am teuren Standort Wien Mitte zu diesem Zeitpunkt ein unkalkulierbares Risiko gewesen.

Unkalkulierbar schienen auch die noch zu erwartenden Klagen von Anrainern, wofür die juristischen Streitigkeiten um den 2003 realisierten City Tower Vienna – ursprünglich eines der vier geplanten Hochhäuser von Wien Mitte – einen Vorgeschmack boten. Dieser Turm, den nicht die BAI, sondern ihr langjähriger Projektpartner, der ebenfalls rathausnahe Baukonzern Porr entwickelte, wurde aus dem Gesamtprojekt herausgelöst und bereits im Frühjahr 2002 mit einer Baugenehmigung bedacht. „Das ging nur deshalb so schnell, weil vor der Bauverhandlung eine Grundstücksteilung veranlasst worden war, deren Ergebnis ein anrainerfreier Bauplatz sein sollte“, weiß Helmut Hofmann. „Die Bauverhandlung bezog sich dann auf dieses Grundstück, obwohl das Grundbuchamt die Teilung abgelehnt hatte. Trotzdem verwehrte die Baubehörde uns rechtmäßigen Anrainern die Parteienstellung und damit das Einspruchsrecht.“ So erteilte das Rathaus eine Baubewilligung für eine Liegenschaft, die de jure gar nicht existierte.

Gravierende Verfahrensmängel orteten Bewohner des Viertels auch bei der Flächenwidmung für das Gesamtprojekt. Denn die Stadt Wien hatte zwischen der öffentlichen Auflage des Flächenwidmungs- und Bebauungsplans im Herbst 1999 und dessen politischem Beschluss im darauffolgenden Frühjahr noch massive Veränderungen am Plandokument vorgenommen. Aus sechs Türmen waren vier geworden, dafür maßen zwei davon statt 69 nun plötzlich 87 Meter. Gemäß der Bauordnung hätte der Planentwurf danach nochmals öffentlich aufliegen müssen – was aber nicht erfolgte, weil die nachträglichen Änderungen laut Planungsstadtrat Rudolf Schicker ohnehin Verbesserungen für die Anrainer gebracht hätten.

Im Sommer 2003 gelang es den Stadtvätern, die BAI für einen Neuanfang in Wien Mitte zu gewinnen. Dieses Mal organisierte wieder das Stadtplanungsamt den Wettbewerb, der einen Entwurf im Einklang mit den Kriterien der Unesco erbringen sollte. Als Sieger gingen die Architekten Dieter Henke und Marta Schreieck hervor, die mit maßvollen Höhen, großzügigen Passagen und öffentlichen Bereichen zu überzeugen wussten. Mit Ausnahme eines 60 Meter hohen Hotelturms vis-a-vis des bestehenden Justizturms wiesen sie für die Bebauung eine Obergrenze von 30 Metern aus.

„Der neue BAI-Geschäftsführer, Thomas Jakoubek, vermerkte bereits bei der Jurysitzung, dass das preisgekrönte Projekt wohl schwierig zu realisieren sei“, erzählt Sabine Gretner, Architektin und Planungssprecherin der Wiener Grünen. „Konkret bemängelte er die hohe Durchlässigkeit des Komplexes, die bei einem Bahnhofsgebäude eigentlich selbstverständlich sein sollte, sowie die relativ geringe verwertbare Bruttogeschoßfläche“, so die Oppositionelle. „Das alte Argument, es rechne sich so nicht, wurde also wieder zur Aufblähung des Projekts hervorgeholt.“ Schließlich einigten sich Jury und Bauträger darauf, den Entwurf hinsichtlich Dichte und Höhe noch „nachzubessern“.

Das siegreiche Projekt sei nun nochmals unter tatkräftiger Zusammenarbeit von Investoren, Grundeigentümer, Verkehrsträgern und Wiener Stadtplanung durchgeknetet worden, erklärte der Juryvorsitzende wohlwollend auf einer Pressekonferenz im Jänner 2004, sodass noch zusätzliche Nutzflächen ohne Einbußen der städtebaulichen Qualität untergebracht worden seien. Tatsächlich aber wurde der Entwurf so sehr nachverdichtet, dass sich die Architekten öffentlich von dem Projekt distanzierten. So erhöhte sich die Randbebauung um eineinhalb Geschoße auf 35 Meter und rückte entlang der Landstraßer Hauptstraße um vier Meter in den Straßenraum vor. Das geplante Hochhaus wiederum geriet etwas breiter und wuchs auf 70 Meter an. Und die vorgesehenen Passagen wurden in ihrer Dimension von acht mal fünf Meter auf vier mal vier Meter reduziert und in ihrer Anzahl verringert.

Selbst nach demBeschluss der nun schon dritten Flächenwidmung Ende 2004 setzte sich das Drehen und Wenden der Pläne für Wien Mitte fort, um sie im Sinne der BAI noch weiter zu optimieren. Als Draufgabe opferte das Rathaus den Einzelhandelsplänen des Investors die größte Markthalle der Stadt, den unmittelbar an die geplante Neubebauung grenzenden Landstraßer Markt. Im Sommer 2006 beschloss der Stadtsenat schließlich, dass für die Bahnhofsüberbauung keine Umweltverträglichkeitsprüfung erforderlich sei. „Möglich wurde diese Entscheidung auch dadurch“, beklagt Sabine Gretner, „dass man das Großbauvorhaben so aufgliederte, dass kein Teilprojekt die UVP-relevanten Grenzwerte erreicht.“ Dennoch ließ der für 2006 avisierte Baubeginn mangels interessierter Mieter noch weiter auf sich warten.

Nun aber drehen sich die Kräne über Wien Mitte. Trotz der internationalen Immobilien- und Finanzmarktkrise konnte für die schwer vermittelbaren Büroflächen der lang ersehnte Großabnehmer gefunden werden: Bis auf das Amtshaus für Floridsdorf und die Donaustadt sollen alle Bezirksfinanzämter sowie das Finanzamt für Gebühren und Verkehrssteuern ihre über die Stadt verteilten Gebäude aufgeben und hier konzentriert werden. Eine genaue Analyse der vorhandenen Angebote auf dem Wiener Büromarkt ist dieser Entscheidung ebenso wenig vorausgegangen wie ein ernsthaftes Bemühen, mehrere in Frage kommende Bauträger um den besten Preis konkurrieren zu lassen. So steht im Raum, dass sich das BAI-Projekt nicht allein wegen seiner Standortqualität durchsetzen konnte, sondern auch von jenem politischen Rückenwind profitierte, der es seit 20 Jahren begleitet.

Was nach Synergie in der Verwaltung klingt, bedeutet tatsächlich, dass die bisherigen Finanzamtsstandorte mit insgesamt rund 60.000 Quadratmetern Nutzfläche in Bälde brachfallen – wobei der staatliche Eigentümer, die Bundesimmobiliengesellschaft, bei Weitem nicht alle wird wiederverwerten können. Und was mit Einsparungen argumentiert wird, erweist sich für die öffentliche Hand in Gestalt der BIG als dauerhafter Verlust von Mieteinnahmen, die künftig an die private Immobilienwirtschaft fließen – was, wie das Beispiel des nahen Justiz Tower zeigt, dem Steuerzahler nur selten günstiger kommt. Mit dieser Weichenstellung hat die Politik auch den letzten noch ausständigen Schritt unternommen, um das spekulative Projekt Wien Mitte zu einem glücklichen Ende zu bringen – für wen auch immer. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.12.2009)

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