Her mit dem ganzen Leben

Adele Stürzl: 1892 in Wien geboren, Magd, Kommunistin, Widerstandskämpferin. Mit 51 Jahren starb sie unter dem Fallbeil. Rosmarie Thüminger zeichnet mit Empathie die Geschichte dieser „vollständigen Frau“ nach.

Rosmarie Thümingers literarische Annäherung an Leben und Sterben der Widerstandskämpferin Adele Stürzl liest sich wie ein aus der Zeit gefallener Jugendroman – einer nämlich, der darauf verzichtet, seine Leserschaft dort „abzuholen“, wo sie sich dem herrschenden Vorurteil zufolge befindet, und mit historischen Verhältnissen auf eine Weise vertraut zu machen, die das geringe Vertrauen in die Auffassungsgabe und das Einfühlungsvermögen heutiger Jugendlicher offenbart. Statt in Wortwahl und Erzähltempo um deren Gunst zu buhlen, wählt Thüminger ihre sprachlichen Mittel nach dem Charakter der Protagonistin, so wie er sich ihr durch schwer zugängliche Dokumente und lang gehütete Erinnerungen erschlossen haben mag, dem einer tapferen, politisch wachen und im Träumen von einer gerechteren Gesellschaft begabten Frau, die schon als junges Mädchen die Welt „mit offenen Augen“ angesehen hat.

Die dramatischen Lebensumstände dieser Adele Stürzl, die 1892 in Wien geboren wurde, früh verwaist war, sich als Magd, Kindermädchen und Hilfsarbeiterin verdingt hat und mit 51 Jahren im Zuchthaus München-Stadelheim unter dem Fallbeil starb, treten umso deutlicher hervor, als die Autorin alles vermeidet, was ihrer Erzählung den Anstrich des Effektvollen und Spekulativen verleihen könnte. Sie erzählt leise, fast verhalten, ist dabei diskret und, in einem geradezu altertümlichen Sinn, um Keuschheit bemüht. Die Unschärfen, die sich infolge ihrer respektvollen Zurückhaltung ergeben, räumen Lesern viel Raum ein, für die eigene Vorstellungskraft, aber auch für Überlegungen, gegenwärtige Verhältnisse betreffend, die durchaus vergleichbar erscheinen mit denen damals, zu Adeles Zeiten.

„Mit offenen Augen“ ist ein fesselndes, in seiner Bescheidenheit notwendiges Buch; zulässig ist allenfalls der Einwand, dass Thüminger sich, indem sie der Struktur eines Jugendromans folgt, einer starren Erzählperspektive unterwirft: Sie schreibt in der dritten Person, aber gleichsam aus dem Inneren ihrer Heldin heraus, in erlebter Rede, wodurch die Einsichten, zu denen Adele Stürzl gelangt, weniger dargestellt als behauptet werden. Dazu kommt das geringe Vertrauen in die Leser, die in die direkte Rede gestellten Sätze auch richtig zu deuten, weswegen die Autorin nachhilft, indem sie jemanden „ereifern“, „anherrschen“ oder„herausplatzen“, dann wieder etwas „bedenken“, bekräftigen“ oder „versprechen“ lässt. Kein geringer Schaden, den diese vom Afterjournalismus kontaminierte poetische Praxis anrichtet, aber nicht einer, der einem die Lektüre nachhaltig verleidet. Ich bin Rosmarie Thüminger nie begegnet, kenne von ihr nicht mehr als die Eckdaten ihrer Biografie und das eine oder andere Prosastück. Trotzdem wage ich zu behaupten, dass die 70-jährige, in Innsbruck ansässige Schriftstellerin in diesem Buch auch sich selbst beschrieben hat – eine Frau vom Land, aus einfachen Verhältnissen, die nie der Versuchung erlegen ist, das eigene Wohl über das der Gemeinschaft zu stellen.

Wie ihre Heldin, nur Jahrzehnte später, ist Thüminger Kommunistin geworden, was ihr, zumal in Tirol, mehr Ächtung als Anerkennung eingebracht hat. Auch Adele Stürzl hat die längste Zeit ihres Lebens in Tirol verbracht, in Kufstein, als Frau eines Schneiders, den sie während des Ersten Weltkriegs in Budapest kennengelernt hatte. Da war sie schon erfüllt gewesen von den sozialistischen Ideen, die ihr in Wien zugeflogen waren. In Hans Stürzl hatte sie sich verliebt, weil er in politischen, sittlichen Belangen wie sie gedacht und empfunden hatte. Die Ursache für die spätere Entfremdung zwischen den Eheleuten, von Thüminger mehr angedeutet als ausgeführt, liegt in der unterschiedlichen Bedeutung, die sie dem öffentlichen Wirken beigemessen haben; während Hans allmählich zu resignieren – oder sich anzupassen – begann, handelte Adele weiterhin nach der Losung, die sie bei ihrer ersten Demonstration in Wien aufgeschnappt hatte: „Her mit dem ganzen Leben! Brot und Rosen!“ Es gab für sie keinen Grund, abzurücken von dem, was sie als richtig erkannt hatte. Deshalb ihr Festhalten am Arbeiterkampf, ihr Weitermachen in der Illegalität, ab 1934, ihr Bruch mit der Sozialdemokratie, ihr Übertritt zur KPÖ (die, was meistens vergessen wird, die von der Mutterpartei verlorenen Grundsätze über die schlimmsten Jahre gerettet hat), ihre Entschlossenheit, dem Naziterror zu widerstehen, durch das Anfertigen und Streuen von Flugzetteln, durch gegenseitiges Mutmachenbei geheimen Treffen, durch das Bemühen, für einen zur Desertion willigen Wehrmachtssoldaten einen Fluchtweg zu finden: ein aussichtsloses Unterfangen, zumindest aus heutiger Sicht, aus der Perspektive derer, die immer nur die Schwäche des Widerstands kritisieren und selber nie riskiert haben, Widerstand zu leisten. Auch das spricht für die Autorin: dass sie die Ideologie solcher Jammergestalten verwirft. Dass sie Adeles Lebensweg nicht zur naiven, unreflektierten Heldensage verzerrt, ihrer Protagonistin aber auch nicht die Gebrochenheit einer Opportunistin andichtet. Im notgedrungen Fragmentarischen der dokumentarischen Erzählung erscheint eine vollständige Frau, und in den offenen Augen dieser Frau glaube ich ihre Biografin zu erkennen.

In die Chronologie der laufenden Ereignisse rutschen manchmal rührend zarte Begebenheiten. Rosmarie Thüminger erwähnt zum Beispiel den aufwallenden Stolz, mit dem die junge Adele bei ihrer ersten Demonstration, angesichts einer besonders lebhaften, kämpferischen Gruppe Jugendlicher aus Favoriten, bekannt hat: „Ich bin in Favoriten geboren.“ Oder die Verblüffung, mit der der jüngste Teilnehmer eines marxistischen Lesezirkels, immer noch in Wien, plötzlich ausruft: „Wie habe ich es nur so lange ausgehalten ohne dieses Wissen?“ Wir erfahren, durch die Beschreibung des Arbeitskampfes in einer Kufsteiner Waffenfabrik, dass Streiken mindestens ebenso anstrengend ist wie Arbeiten: „Eine hält die Untätigkeit nicht mehr aus, nimmt einen Stofffetzen zur Hand und beginnt, die einzelnen Metallteile zu reinigen.“

Das Elend der Arbeiterbewegung in einem reaktionären, von Kerzenschein und Goldglanz verstrahlten Landstrich wie Tirol zeigt sich schon daran, dass die Frauen und Männer um Adele Stürzl für ihr politisches Handeln keine angemessene kulturelle Ausdrucksform finden: Als die Kufsteiner Fabrikarbeiterinnen sich mit ihren Forderungen nach Lohnerhöhung durchsetzen, stimmen sie vor Freude kein selbstbewusstes Arbeiter-, sondern ein kleinmütiges Kirchenlied an. Und im Jahr vierundvierzig, in Stadelheim, in der Todeszelle sucht einer aus Adeles Widerstandsgruppe Trost nicht in der Internationale, sondern in der sentimentalen Weise von den wilden, von Sturmwind umwehten Gesellen. „Fürsten in Lumpen und Loden, ziehen wir dahin...“

Die falsche Kunst zur rechten Zeit. Auch hierin erweist sich, wie gegenwärtig Thümingers Erzählung doch ist. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.12.2009)

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