Gastkommentar

Volksmusik muss nicht puristisch sein

Die heutigen Volksmusikszenen in Europa entziehen sich erfolgreich jedweder ideologischer Vereinnahmung.

Wenn eine österreichische Zeitung in ihrem Forschungsjournal der Volksmusik einen Aufmacher widmet, spricht dies für deren stark angestiegene gesellschaftliche Bedeutung. Dies gilt auch und gerade unter Vernachlässigung von popkulturellen Phänomenen wie Trachtenmode und Jodelboom. Dass wir Volksmusik nicht gänzlich getrennt von ihrer politischen Instrumentalisierung betrachten können, zeigt die österreichische Forschung seit Jahrzehnten, zuletzt auf dem Grazer Symposium „Volksmusik und (Neo)Nationalismus“, von dem Doris Griesser am 18. 11. im „Standard“ berichtete.

Leider sind volksmusikalische Themen im öffentlichen Diskurs anfällig für Klischees und Stereotypen, von denen auch der genannte Beitrag nicht ganz frei ist. Zunächst wird Volksmusik etwas einseitig als „lebendiger Ausdruck von Identität“ ihrer politischen Vereinnahmung gegenübergestellt – obwohl gerade die Überhöhung der Identitätsdiskurse der Grund für die um sich greifenden ethnopolitischen Verirrungen ist. Dass der Volksmusik in Österreich und Deutschland erst „der Nationalsozialismus die Unschuld nahm“, kann nur behaupten, wer nationalistische Männergesangsvereine, Bismarcks Diktum vom „deutschen Lied als Kriegsverbündeten für die Zukunft“ und den Radau-Antisemitismus Josef Pommers übersieht.

Es haben auch nicht „die Linksalternativen gemeinsam mit dem US-Folk in den 1960er Jahren die alten Volkslieder wiederentdeckt“. Vielmehr waren es die kommunistischen Parteien der USA und Großbritanniens, die vor bzw. nach dem Zweiten Weltkrieg den angloamerikanischen „Folk“ als Agitationsinstrument deklarierten. Später wurde der Stil auch im gemütlichen deutschen Alternativmilieu heimisch, wo die volksmusikalische Erneuerungsbewegung viel weniger als in Österreich an lebendige Überlieferungen anknüpfen konnte oder wollte. Inzwischen hat sich der Folk als politisch weitgehend neutrales, internationales Idiom durchgesetzt. Mit „Heimatklang“ hat deswegen auch der von den Neuen Rechten in Deutschland und Österreich aufgegriffene Neofolk weniger zu tun, als die lederbehosten Wadeln des „Standard“-Titelbildes suggerieren. Die musikalische Urheimat des Folk sind nicht die Alpen, sondern die Appalachen. Unstrittig ist dagegen, dass wir beim Neofolk immer wieder auf alte Bekannte des spätromantischen Volksmusikdiskurses stoßen, wie Antimoderne, Antiurbanismus und Technophobie. Dass diese Musikrichtung per se extremistisch sei, wurde in Graz immer wieder zurückgewiesen.

Von der „Pflege“ emanzipiert

Verwundern muss Griessers Hervorhebung der Schweiz als eines Landes, in dem man „auch recht entspannt“ mit Volksmusiktraditionen umgehen könne. Hier wird übersehen, dass dieser entspannte Umgang auch in Österreich die Volksmusikszene prägt, die sich längst von der ideologiebeladenen und puristisch überreglementierten „Pflege“ emanzipiert hat. Hierfür stehen z. B. Rudolf Pietsch, Maria Walcher, Roland Neuwirth. Das Ergebnis ist eine traditionsbewusste, aber nicht traditionalistische Musiklandschaft, in der politische Haltungen zumeist Nebensache sind.

Die „Frischzellenkur“, die die Autorin bemüht, liegt in der Natur der Volksmusik. Vereinzelt können heute auch gelungene Experimente „mit Jazz, Klezmer, Rock und anderen Musikstilen“ zum Tragen kommen – sie sind aber sicher nicht die Voraussetzung für eine Loslösung von nationalistischen Ideologien. Ob eine „neue, jugendliche ,Volx-Musik‘“ eine nennenswerte Lufthoheit über die Musikantenstammtische in Österreich ausübt, sei dahingestellt. In jedem Fall entziehen sich die Volksmusikszenen in Europa immer erfolgreicher jedweder ideologischer Vereinnahmung.

Univ.-Prof. Ulrich Morgenstern lehrt
Geschichte und Theorie der Volksmusik an der Universität für Musik Wien.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.11.2017)

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