Gastkommentar

Der Sinomarxismus und seine hochgesteckten Ziele

Xi Jinping will China bis Mitte des Jahrhunderts zu einem wohlhabenden, zivilisierten, schönen und starken Land machen.

Amtliche Dokumente eröffnen, wenn man hinter die Zeilen blickt, Einsichten in die chinesische Wirklichkeit. Man lese zum Beispiel in der am 28. Oktober 2017 in chinesischer Sprache veröffentlichten Satzung der Kommunistischen Partei (KPC), die jene vom November 2012 ablöst, den folgenden Satz: „In der gegenwärtigen Etappe ist der Hauptwiderspruch in der chinesischen Gesellschaft der Widerspruch zwischen den wachsenden Bedürfnissen des Volkes nach einem schönen und guten Leben und der unausgewogenen und ungenügenden Entwicklung.“

Den „Hauptwiderspruch“ legt die KPC, gestützt auf mit chinesischen Beiträgen, neuestens jenen von Xi Jinping, ergänzten Marxismus fest. Den Sinomarxismus benutzt die KPC getreu dem Diktum vom Marx „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern“ als Richtschnur ihres Handelns.

Dabei spielt die von Mao Zedong 1937 aus einem sowjetischen Lehrbuch übernommene Methode der Fokussierung aller Arbeiten auf die Lösung eines alle anderen „Widersprüche“ (sprich: Probleme) dominierenden „Hauptwiderspruchs“ eine zentrale Rolle. Über den Sinomarxismus sagte Xi Jinping in seiner Rede vor dem 19. Parteitag am 18. Oktober: „Der Sinomarxismus des 21. Jahrhunderts wird bestimmt imstande sein, eine noch stärkere, überzeugendere Wahrheitskraft zu entfalten.“

Nicht alles „schön und gut“

Durch den Wortlaut des neuen Hauptwiderspruchs gibt die KPC indirekt zu, dass die Lebensqualität von Chinesen „in der gegenwärtigen Etappe“ nicht „schön und gut“ ist. Dies hängt mit der Art und Weise zusammen, wie die KPC den alten Hauptwiderspruch, der bis auf den VIII. Parteitag der KPC (1956) zurückgeht, aber erst in der von 1978 bis 2017 dauernden „Etappe“ wirklich angegangen wurde, umgesetzt hat: nämlich „den Widerspruch zwischen den wachsenden materiellen und kulturellen Bedürfnissen des Volkes und der rückständigen gesellschaftlichen Produktion“.

Die streng marxistisch-materialistisch an erster Stelle stehenden „materiellen Bedürfnisse des Volkes“ hat die KPC jahrzehntelang ungemein eng ausgelegt, nur beschränkt auf das Wachstum des Bruttoinlandprodukts. Daraus resultierte zwar die rasante Entwicklung der chinesischen Wirtschaft. 600 bis 700 Millionen Menschen sind innerhalb von 35 Jahren aus extremer Armut befreit worden. „Das ist beeindruckend und außergewöhnlich“, kommentierte Philipp Alston, der UN-Sonderberichterstatter für extreme Armut und Menschenrechte.

Auf Kosten der Umwelt

Wie mir unlängst ein chinesischer, 1978 geborener Jurist erzählte, gab es in seiner Kindheit in seinem Dorf, das inzwischen wirtschaftlich aufgeblüht sei, kein Toilettenpapier. Man musste sich mit Steinen und Blättern behelfen. Betrug das Pro-Kopf-Einkommen 1980 circa 200 US-Dollar, so liegt es inzwischen bei über 8000 US-Dollar. Die weitgehende Beseitigung der „rückständigen gesellschaftlichen Produktion“ geschah auf Kosten der Umwelt. Reine Luft und sauberes Wasser gehörten für die KPC jahrzehntelang nicht zu den „materiellen Bedürfnisse des Volkes“.

Das Problem der Ernährung und Unterkunft der 1,3 Milliarden Chinesen, so Xi Jinping in seiner Parteitagsrede, sei gelöst und die bis zum 100. Gründungstag der KPC (2021) angepeilte „kleine Wohlfahrt“ im Großen und Ganzen verwirklicht. Aber nun weiten sich die Bedürfnisse des Volkes immer mehr aus. Nicht nur an die wirtschaftlichen Lebensbedingungen stellt das Volk höhere Anforderungen, auch hinsichtlich Umwelt, Rechtswesen, Fairness und Gerechtigkeit in der Gesellschaft et cetera steigen die Erwartungen.

Dem steht jedoch eine unausgewogene und ungenügende Entwicklung entgegen, mit Folgen wie einer zum Teil krassen Kluft zwischen Arm und Reich, einer in weiten Teilen Chinas ungenügenden Infrastruktur, großen Unterschieden zwischen Stadt und Land sowie zwischen Küsten- und Binnenchina.

Die „gegenwärtige Etappe“, die im Zeichen der Lösung des neuen Hauptwiderspruchs steht, unterteilt sich laut Xi Jinping in zwei Abschnitte: Bis 2035 soll im Großen und Ganzen eine „sozialistische“, also der Führung der KPC unterstehende „Modernisierung“ erreicht werden. Bis dann sollen die wirtschaftliche und wissenschaftlich-technologische Kraft Chinas im großen Maße erhöht und Institutionen sowie die Regierungstechnik umfassend perfektioniert werden. Der Anteil der Menschen mit mittlerem Einkommen soll beträchtlich ansteigen.

Ins Zentrum der Weltbühne

Bis Mitte des Jahrhunderts soll China zu einem wohlhabenden, zivilisierten, harmonischen, schönen, sozialistischen modernisierten starken Land werden. Hinter diesen wohlklingenden kontrafaktischen Wörtern wird eine gegenteilige Realität sichtbar. Der gemeinsame Wohlstand des gesamten Volkes soll im Wesentlichen erreicht sein, und China soll sich, so Xi, „allmählich dem Zentrum der Weltbühne“ angenähert haben.

Am 19. Jänner 1985 erklärte der damalige Generalsekretär der KPC, Hu Yaobang, man hoffe, bis 2049 die höchstentwickelten kapitalistischen Länder in ökonomischer Hinsicht eingeholt zu haben. Xi Jinpings Vision hinsichtlich der Verwirklichung des „chinesischen Traums“ bis Mitte des 21. Jahrhunderts unterscheidet sich nicht grundsätzlich von Hu Yaobangs Hoffnung, bewegt sich also in alten Bahnen.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

DER AUTOR

Dr. jur., Dr. phil. Harro von Senger (geb. 1944 in Genf) studierte von 1971 bis 1977 in Taipeh, Tokio und Beijing. Professor für Sinologie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau, seit 2009 emeritiert. Buchveröffentlichungen in 15 Sprachen, darunter Uighurisch, Chinesisch, Japanisch, Koreanisch, Indonesisch, Russisch, Serbisch und Türkisch.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.11.2017)

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