Jännerstreik 1918: "Eine ernste Warnung in ernster Zeit"

 Bericht der "Neuen Freien Presse" vom 16. Jänner 1918
Bericht der "Neuen Freien Presse" vom 16. Jänner 1918
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Vor 100 Jahren legten Arbeiter des Daimler-Motorenwerks in Wiener Neustadt spontan ihre Arbeit nieder. Viele weitere Betriebe folgten - die Kriegsproduktion stand still.

In diesen Jännertagen vor einem Jahrhundert streikten hunderttausende Arbeiter gegen den Krieg und gegen die schlechten Arbeits- und Lebensbedingungen in der österreichisch-ungarischen Monarchie. Der Jännerstreik 1918 begann in Wiener Neustadt, als die Arbeiter des Daimler-Motorenwerks spontan ihre Arbeit niederlegten. Viele weitere Betriebe folgten, die Kriegsproduktion wurde kurzzeitig gelähmt.

Nach der Oktoberrevolution in Russland kam es in vielen europäischen Ländern zu Solidaritätskundgebungen und Aufrufen zum Frieden. Es war der vierte Kriegswinter des Ersten Weltkriegs. In den Fabriken wurden immer mehr Frauen und Jugendliche zur Arbeit eingesetzt, die Männer starben an der Front. Die soziale Not der arbeitenden Bevölkerung war groß.

Geißelung der "Selbstsucht der besitzenden Klasse"

Auslöser des Arbeiteraufstands war die Halbierung der Mehl-Rationen auf die Hälfte durch die Regierung am 14. Jänner 1918 (siehe unten: Bericht der "Neuen Freien Presse" vom 16. Jänner 1918). Ein spontaner Streik begann in der Industriestadt Wiener Neustadt, weitere Betriebe in Niederösterreich schlossen sich an. Am 16. Jänner veröffentlichte die sozialdemokratische Partei in der Arbeiterzeitung ein Manifest, in dem die "Selbstsucht der besitzenden Klasse" gegeißelt wurde und der "Frieden auf der Grundlage des unverfälschten Selbstbestimmungsrechts der Völker" gefordert wurde.

 Bericht der "Neuen Freien Presse" vom 16. Jänner 1918
Bericht der "Neuen Freien Presse" vom 16. Jänner 1918

In Wien trat die Arbeiterschaft der Lokomotivwerkstätte Floridsdorf in den Streik ein, am 16. Jänner verweigerten die Belegschaften der Wiener Rüstungsbetriebe die Arbeit. Ausgehend von den Floridsdorfer Fiat-Werken griff die Bewegung auf 120 Wiener Betriebe über und erfasste danach die steirische, schließlich die ungarische Arbeiterschaft, heißt es dazu im Weblexikon des Staatsarchivs. Innerhalb weniger Tage breitete sich die Protestbewegung in der Monarchie aus. Es kam zu Streiks in Mähren und Unruhen in Krakau. Nach Berichten traten eine dreiviertel Million bis zu einer Million Arbeiterinnen und Arbeiter in den Ausstand. Alle Industriegebiete der Monarchie waren betroffen.

Kampf gegen den Kontrollverlust

Kaiser Karl schickte an seinen Außenminister Ottokar Graf Czernin ein Telegramm, in dem er auf baldigen Friedensschluss drängte, denn ohne Frieden käme es bald zur "Revolution": "Dies ist eine ernste Warnung in ernster Zeit." Die Regierung unter Ministerpräsident Ernst Seidler sah sich genötigt, Verhandlungen mit der sozialdemokratischen Parteiführung aufzunehmen. Außenminister Czernin sagte in einer Erklärung Erleichterungen bei der Ernährung und Kriegsleistung zu - die jedoch später nicht eingehalten wurde.

Der Streik war nicht organisiert begonnen worden. Nun versuchte die Sozialdemokratie, bei der Wahl der Arbeiterräte die Kontrolle über ihre Basis nicht zu verlieren. Der sozialdemokratische Parteivorstand selbst verfasste eine Regierungserklärung, die zahlreiche Zugeständnisse an die Streikenden enthielt, darunter auch die Zusicherung, die katastrophale Lebensmittelversorgung zu verbessern und sich um Friedensverhandlungen zu bemühen, und setzte damit am 20. Jänner bei einer Sitzung der Arbeiterräte im Eisenbahnerheim Margareten formal den Abbruch des Streiks durch.

Matrosenaufstand von Cattaro

Der Streik ging noch einige Tage weiter und brach dann zusammen. Die Regierung verhaftete die Streikführer und zahlreiche Aktivisten, viele wurden zur Armee eingezogen. Andere blieben unentdeckt wie der Autor Egon Erwin Kisch, der zahlreiche Streikflugblätter verfasste. Allerdings brachen auch in der Armee Aufstände und Unruhen aus, es kam immer wieder zu Protesten. Es gab eine Meuterei unter Truppen südslawischer Herkunft in Judenburg und Pecs, Truppen mit tschechischen Soldaten im böhmischen Rumburg und unter ungarischen Regimentern in Budapest.

Am 22. Jänner 1918 streikten die Arsenalarbeiter und die Matrosen im Kriegshafen Pola (Pula) in Istrien. Am 29. Jänner streikten die Arbeiter in Mährisch-Ostrau. Im Februar 1918 rebellierten die Matrosen auf den in der Bucht von Kotor stationierten österreichischen Kriegsschiffen: Beim Matrosenaufstand von Cattaro hissten 6000 Matrosen auf 40 Schiffen die rote Fahne und verlangten einen sofortigen Friedensschluss.

Neue Freie Presse am 16. Jänner 1918

Arbeiter in Niederösterreich streiken

Die Kürzung der Mehlquote auf die Hälfte der bisherigen Ration hat in einem Teile der industriellen Arbeiterschaft Niederösterreichs eine lebhafte Bewegung hervorgerufen. Am größten ist die Zahl der stillstehenden Betriebe im Triestingtal.  In Wiener Neustadt streiken etwa 10.000 Arbeiter und auch aus Neunkirchen werden Arbeitseinstellungen berichtet. Aus Wiener Neustadt traf heute unter Führung des Abgeordneten Dr. Renner eine Abordnung in Wien ein und sprach beim Leiter des Ernährungsamtes Generalmajor Höfer vor, dem sie eine Schilderung der durch die Kürzung der Mehlquote hervorgerufenen Sachlage gab. Auch aus St. Pölten liegen Berichte über beginnende Arbeitseinstellungen vor.

Ein der “Arbeiterzeitung” aus Wiener Neustadt zugehender Bericht besagt unter anderem: Um halb 8 Uhr morgens legte die Arbeiterschaft der Daimler-Motorenwerke die Arbeit zum Protest gegen die Verkürzung der Mehlquote nieder und veranstaltete im Fabrikshof eine Versammlung. Dieselbe beschloß, eine Abordnung zur Direktion zu entsenden und von dieser Intervention zu verlangen. Direktor Porsche erklärte sich zur Intervention bereit, forderte aber gleichzeitig die Anwesenden auf, die Intervention abzuwarten. Die Versammlung sprach sich dagegen aus und beschloß vielmehr, sich zum Rathaus zu begeben.

(Red/APA)

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