Das quer gestreifteKleid

Im oberösterreichischen Enns geht sie Anfang der 1930er-Jahre in die Volksschule. In Sichtweite, drüben in Maut- hausen, wird sie 1945 vergast werden. Bildungsbürgerkind, Widerstandskämpferin, „Reichsfeindin“: Bozena Skrabalkova.

Bei Birkenblättertee und Schmalzbroten lernte sich 1944 im tschechischen Städtchen Tisnov ein junges Paar kennen, das vollerHoffnung dem Leben und der Liebe entgegensah: Der Krieg würde bald zu Ende sein, freute sich Bozena, als Jaroslav sich, mit Handkuss, nach den ersten gemeinsamen Stunden verabschiedete.

Jaroslav Koralnik, genannt Jarek, damals 22 Jahre alt, vergaß nie, was Bozena Skrabalkova, 21, an jenem Nachmittag getragen hatte: Das quer gestreifte Kleid stand ihr so gut, die blonde Strähne über der Stirn hatte sie mit einer Spange zurückgesteckt. So, mit klarem, ernstem Blick, zeigt sie auch das Umschlagfoto des Buches von Herma Kennel, der deutschen Autorin, die Bozena ins Gedächtnis der Zeitgenossen zurückholte, mit ihrer akribisch recherchierten Dokumentation „Die Welt im Frühling verlassen“(erschienen im Vitalis Verlag, Prag). Die Welt im Frühling verlassen, das war das bittere Schicksal der Widerstandskämpferin Bozena. Ein halbes Jahr nach der Begegnung mit Jarek,im März 1945, geriet sie in die Fänge der Gesta- po. Am 10. April 1945, alsdie Rote Armee bereits große Teile der Slowakei befreit hatte, wurde Bozena in der Gaskammer des Konzentrationslagers Mauthausen erstickt.

Die Bekanntschaft mit Jaroslav Koralnik, der sichin einer TV-Sendung des MDR kritisch über Gewalttaten bei der Vertreibung der Deutschen aus Brno (Brünn) im Mai1945 geäußert hatte, veranlasste Kennel zu ihrem Buch: Der damals 80-jährige Jurist, der den qualvollen Tod seiner Liebe nie verwunden hat, bat die Autorin im November 2002, über Bozena und die gemeinsame Arbeit im Widerstand zu schreiben: Bozena, das Mädchen aus bürgerlichem Hause, der das ersehnte Medizinstudium im damaligen Reichsprotektorat Böhmen und Mähren verwehrt war, versorgte auf nächtlichen Fahrten mit dem Rad die im Wald versteckte Partisanengruppe um Jarek – schon bevor die beiden sich ineinander verliebten.

Das Mädchen wuchs behütet und sorglos auf. Der Vater, ein Chemie-Ingenieur, war aus dem an Brno angrenzenden Modrice (Mödritz) als Verwalter einer Zuckerfabrik ins oberösterreichische Enns berufen worden. Dort ging die neunjährige Bozena nach dem Umzug in die Volksschule, beherrschte bald Deutsch wie ihre Muttersprache und wechselte 1933 auf das Linzer Mädchenlyzeum, die Körner-Schule. Bozenas gehbehinderter Bruder bekam zu Hause Privatunterricht. „Ich weiß noch, wie sie mit der Kutsche in die Schule gefahren wurde“, erinnerte sich Jahrzehnte später Wilhelm Strimmer, ein Linzer Zeitgenosse von Bozena, gegenüber Peter Kammerstätter von der „Lagergemeinschaft Mauthausen“, der Jaroslav bei seiner Spurensuche half.

In der renommierten Linzer Tanzschule „Schlesinger“ nahm die junge Tschechin zusätzlich zum gemeinschaftlichen Unterricht noch Privatstunden, so tanzte Bozena schon mit den Erwachsenen, die jungen Burschen umschwärmten sie. Noch als alter Herr zeigte sich Jaroslav Koralnik eifersüchtig, weil seiner Bozena damals ein junger deutscher Offizier einen Heiratsantrag machte.

Die heile, fröhliche Welt der Bozena bekam einen Riss, als der Schuldirektor am 15. März 1939 alle Klassen und ihre Lehrer in der Aula zusammenkommen ließ: Morgens um sechs Uhr war an jenem Tag die deutsche Wehrmacht ins tschechische Staatsgebiet einmarschiert, der tschechoslowakische Staat wurde zerschlagen. Als der Direktor in seiner Ansprache das tschechische Volk mit Schimpfworten wie „Schweine, Hunde“ schmähte, wandte sich die gesamte Schülerschar Bozena zu: Die stand da, „unnahbar aufrecht, würdevoll“, so ihre Cousine Zdenka Bloudková, die beste Freundin von Bozena. „Sie war immer eine tschechisch-slowakische Patriotin, sie hatte es nie verheimlichen wollen und auch nicht müssen“, erinnerte sich Mitschülerin Hedi. Schwierigkeiten in der Schule habe Bozena aber durch ihre Einstellung nie gehabt.

Konnte im Leben der Skrabaleks fortan wirklich alles beim Alten bleiben? Wie nahmen sie Nachrichten über Polizeiterror im „Protektorat“ auf, über die Schließung der tschechischen Hochschulen und die Ermordung von Studenten und Professoren? Ging die Familie in die innere Emigration? Während Bozena ebenso wie ihre Mitschülerinnen Mitglied des Bundes deutscher Mädchen (BdM) wurde und zu feierlichen Anlässen mit Halstuch und Abzeichen antrat, entstand gegenüber von Enns, am Berg oberhalb der Marktgemeinde Mauthausen, das größte Konzentrationslager der „Donau- und Alpenreichsgaue“.

Für die Familie habe sich nach außen hin nichts geändert, behaupten auch andere österreichische Zeitzeugen, die Peter Kammerstätter Ende der 1980er-Jahre für den unermüdlich nachforschenden Jaroslav Koralnik aufgesucht hatte: Für ihn, dessen junge Liebe so schnell ein brutales Ende fand, war es von größter Wichtigkeit, alles erdenklich Mögliche über das kurze Leben von Bozena zu erfahren.

Tatsächlich schien der Alltag der tschechischen Familie in Enns von den Ereignissen in der Heimat unberührt: Ingenieur Skrabalek, als überaus korrekter Angestellter und tschechischer Patriot zugleich bekannt, behielt trotz Militäreinquartierung in der Fabrik seinen Posten, die Tochter absolvierte das Lyzeum. In ihrem Maturazeugnis vom 18. März 1941 heißt es: „Die Bozena Skrabalek zeigt gute Begabung, lebhaftes Interesse; inder Klassengemeinschaft hat sie sich sehr kameradschaftlich erwiesen.“

Erst das Lungenkrebsleiden des Vaters zwang die Familie 1942 zum Umzug nach Mähren, nach Tisnov, unweit von Brno. Der unheilbarKranke wollte in der Heimat begraben werden. Damit begann das zweite, ganz andere Leben von Bozena: Studieren konnte sie nicht, weil al- le tschechischen Hochschulen geschlossen waren. Um der Zwangsverpflichtung zur Arbeit in der deutschen Kriegsindustrie zu entgehen, nahm sie eine Stelle im örtlichen, von den Besatzern geleiteten Arbeitsamt an. Was sie auf ihrem Büroplatz in den Gesprächen mit Zwangsarbeitern und ihren Angehörigen erfuhr, brachte die 20-Jährige auf den Weg des Widerstands: Für Landsleute, die vor dem Einsatz in der Kriegsindustrie fliehen, sammelt sie Lebensmittel, verhilft ihnen zu Unterkünften und Verstecken in den umliegenden Dörfern.

Im Herbst 1944, kurz nach dem Tod ihres Vaters, wird Bozenas Cousin Milos Habrovec von der Gestapo in Tisnov auf der Straße erschossen. Zu gleichen Zeit bildet sich in den Wäldern nördlich von Brno eine Widerstandsgruppe aus 30 jungen Männern, die aus der Zwangsarbeit in Wien geflüchtet sind. Unter ihnen ist Jaroslav Koralnik, ein blendend aussehender, blauäugiger, hochgewachsener junger Mann, den die Besatzer im Zuge ihrer Germanisierungsbemühungen zum „eindeutschungsfähigen Tschechen“ deklariert haben. Doch Jaroslav hat das Angebot, an einer deutschen Universität zu studieren, abgelehnt. – Bozena nimmt bald im Kampf der kleinen Truppe eine Schlüsselstellung ein, sie wird zum Kurier und fälscht die damals obligatorischen „Arbeitsbücher“ für die Partisanen, auch das von Jaroslav, den sie mit falschem Stempel als „Werkzeugbauer“ ausweist, um die Flucht aus Wien zu vertuschen – und die beiden verlieben sich ineinander.

Übermüdet sitzt Bozena tagsüber an ihrem Schreibtisch. Denn fast jede Nacht ist sie mit dem Rad zum Versteck der Gruppe unterwegs, in die alte Mühle von Skalicka, um Nachrichten, Medikamente, Lebensmittel zu überbringen. „Jeden Augenblick im Amt denke ich an Dich“, schreibt sie an Jarek, „bitte verzeih mir, wenn ich Fehler mache, meine Hände zittern vor Anstrengung.“ Ihre Briefe richtet sie zum Schein an eine Freundin namens Jarka; wenn es darin um Jarek selbst geht, ist von Herrn K. die Rede.

Die unerfahrene Widerstandsgruppe indessen übt im Wald den aussichtslosen Aufstand, mit Holzstöcken. Vergebens warten die Partisanen darauf, dass die aus England versprochenen Gewehre abgeworfen werden. Heftig diskutieren die jungen Männer über die richtige Strategie: Jarek, der Ruhige, Besonnene, steht gegen Milan Genserek, den draufgängerischen Hitzkopf. Sie wagen es schließlich, nach Absprache mit den tschechischen Gendarmen, eine Gendarmeriestation zu überfallen, um endlich an Waffen zu gelangen. – Außer Atem, völlig abgehetzt, kommt Bozena in der Nacht zum 22. Februar 1945 bei der Mühle an: Der Brünner Gestapo ist es gelungen, das hat sie in ihrer Dienststelle erfahren, mehrere Konfidenten in die Partisanengruppe einzuschleusen. Vergebens versucht Jaroslav nun, Bozena zur Flucht zu bewegen. Sie weigert sich, vernichtet frühmorgens im Büro alles, was die Gestapo auf die Spur der Partisanen hinweisen könnte, sammelt Unterlagen und Arbeitsbücher ein, die sie dann in den Blumenkübeln ihrer Mutter versteckt.

Die beiden Männer in den schwarzen langen Ledermänteln kamen am Freitag, dem 23. Februar, mit dem Zug von Brno nach Tisnov. In Handschellen wurde Bozena von der Gestapo abgeführt – und aus einem Kastenwagen am Abend des 23. in eine Zelle des Frauengefängnisses von Brno getrieben; ein Auge schwarz umrandet, das ganze Gesicht geschwollen. Stundenlange Misshandlungen konnten den Widerstand der 22-Jährigen nicht brechen – Bozena verriet niemanden.

„Das ist doch die Boschina! Ich sah sie, als sie vorbeigetrieben wurde.“ Elektriker Paulmayer, der in Mauthausen wohnte, sah die Verwalterstochter auf ihrem Weg ins KZ und gab im Oktober 1986 auf dem Tonband von Peter Kammerstätter seinen knappen Kommentar: „Man konnte nichts sagen. Es wurden etwa 100 Frauen vorbeigetrieben. Es war wenige Monate vor dem Zusammenbruch.“

Nach Kriegsende, das war Bozenas Traum, würde sie zurück nach Österreich kommen, um Medizin zu studieren. Grausame Ironie war es, dass Bozena als „Reichsfeindin“ an den Ort verschleppt wurde, von dem aus sie den Ennser Fabrikschornstein sehen konnte. „Die Nacht vom 9. auf den 10. April 1945 verbrachte Bozena mit mehreren Frauen in einer der kleinen Zellen des Arrestgebäudes“, heißt es in den Aufzeichnungen von Hans Marsalek, Mitglied der „Österreichischen Lagergemeinschaft Mauthausen“, der Bozenas Weg und ihr Ende nachgezeichnet hat. „Am 10. April, vormittags, wurde Bozena Skrabalek mit ihren mährischen Landsleuten in der Gaskammer von Mauthausen umgebracht.“

„Sie sind fähig zu allem. Vor dem Tode fürchte ich mich jedoch nicht. Du kennst mich. Es ist jedoch traurig, die Welt im Frühling zu verlassen.“ Aus dem Abschiedsbrief an seine Freundin, den ein 21-jähriger Partisan mit den Fingernägeln in den Schrank seiner Zelle kratzte, stammt der Titel des dokumentarisch genauen, unsentimentalen Buches von Herma Kennel. Kennels Erinnerungswerk wurde für den immer noch stattlichen, hellwachen 80-jährigen Jaroslav umso bedeutsamer, als er Ende 2002, beim Besuch von Bozenas Geburtsstädtchen Modrice, einen Schock erlitt: Zwar hatte der Ort seiner „tapferen Tochter“ eine Marmortafel gewidmet. Doch beim Anblick des eingelassenen Fotos verschlug es Jaroslav schier die Sprache. „Das ist ja gar nicht die Bozena.“1968, als er bei der Einweihung eine Rede gehalten hatte, war auf der Tafel ein Foto angebracht, das Bozenas Gesicht von vorn zeigte. Nun zeigte das Bild eine offensichtlich ältere Unbekannte im Profil.

Vergeblich bat der vielfach mit Auszeichnungen geehrte Widerstandskämpfer den damaligen Bürgermeister und den Stadtrat um Aufklärung und Austausch des Bildes. Nach der Veröffentlichung ihres Buches (2008) bemühte sich Kennel, die Bozenas Geschichte in Tschechien wie in Deutschland auf zahlreichen Lesungen bekannt machen konnte, weiter um die Enträtselung der „falschen Bozena“. Der Redakteur der örtlichen Zeitung („Modrinsky Zpravodaj“) fand sich bereit, einen Aufruf mit der Bitte um Informationen über die mysteriöse Angelegenheit zu veröffentlichen. Der Artikel blieb ohne Echo. Der neue Bürgermeister, Josef Siska, stellte schließlich im vorigen Jahr, auf den Zeitungsbericht angesprochen, eine Prüfung in ferne Aussicht.

Mancherlei Mutmaßungen, sagt Herma Kennel, ließen sich über den Austausch des Bildes anstellen. So sieht die Unbekannte auf dem Foto der 17 Jahre älteren Geliebten von Milan Genserek, des mit Jaroslav rivalisierenden Mitglieds der Widerstandsgruppe, sehr ähnlich. Auch sie starb am 10. April in der Gaskammer von Mauthausen.

Wenn schon das Denkmal in ihrer Heimatstadt durch ein falsches Bild entstellt ist, wird Bozena nun, mehr als sechs Jahrzehnte nach ihrem Tod, in Linz geehrt: Am Körner-Gymnasium, das auf einer Gedenktafel seine ermordeten jüdischen Schüler und Lehrer erwähnt, werden jetzt Erinnerungen an die tschechische Gymnasiastin erarbeitet. Es sei der Schule „natürlich auch ein Anliegen, der Widerstandskämpferin Skrabalek Bozena in angemessener Form zu gedenken“, sagt Direktor Johann Waser. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.03.2010)

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