Österreich zeigt Deutschen: Es geht auch anders

Bundeskanzler Sebastian Kurz gilt als Macher
Bundeskanzler Sebastian Kurz gilt als Macherimago/Emmanuele Contini
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Bundeskanzler Sebastian Kurz gilt wegen seiner Macherqualitäten in manchen Kreisen bereits als „Anti-Merkel“.

Die Deutschen reiben sich die Augen. Viele blicken neugierig und manche neidisch nach Österreich. Denn die neue Regierung von Sebastian Kurz und Heinz-Christian Strache legt ein hohes Reformtempo vor und hat einen klaren Kurs.

„Vom Nachzügler zum Vorbild“, schreibt der „FAZ“-Korrespondent für Wirtschaft in Wien in einem Leitartikel, einer ersten Bilanz nach gut 100 Tagen der Regierung Kurz/Strache: „Lange dümpelte Österreich hinter Deutschland her, doch jetzt wächst die Wirtschaft stärker, und auch sonst scheint hier alles etwas dynamischer zu verlaufen als in Berlin.“

Während in Berlin nach monatelangen zähen Koalitionsverhandlungen und einem gescheiterten Jamaika-Experiment sich wieder eine schwarz-rote Koalition zusammengequält hat, die kaum eine gemeinsame Zukunftsvision anbietet und schon jetzt wieder von inneren Konflikten, vor allem bei Migrationsfragen, geprägt ist, zeigt Österreich: Es geht auch anders. Die Volkspartei und der blaue rechte Partner haben sich schnell und konstruktiv geeinigt. Die neue Volkspartei hat eine Koalition gewagt, die sich auszuzahlen scheint.

Heilige Kühe geschlachtet

Überwiegend positiv klingen die Stichworte in Leitartikeln bürgerlicher deutscher Medien: Schon in den ersten Monaten ist es der Regierung Kurz/Strache gelungen, einen Teil des Reformstaus anzugehen. Sie wagt sich an den Umbau des Wohlfahrtsstaates, senkt die Steuern und Abgaben, entlastet die Mittelschicht und die Familien und peilt zugleich erstmals seit 60 Jahren einen ausgeglichenen Haushalt an.

Einige heilige Kühe der Gewerkschaften werden geschlachtet: Die österreichische Koalitionsregierung flexibilisiert Arbeitszeiten und entschlackt das Sozialsystem auch gegen den Widerstand roter und schwarzer Lobbygruppen, der Gewerkschaften und der Kammern, deren Zwangsgebühren sie verringert. Österreich, das über Jahrzehnte im Klammergriff der ewigen Großen Koalitionen steckte, die das Land korporatistisch in rote und schwarze „Reichshälften“ aufgeteilt und sich den Staat und die staatsnahe Wirtschaft damit zur Beute gemacht hatten, wagt nun (etwas) mehr Wettbewerb, mehr Freiheit.

Dieser Reformwille scheint das persönliche Verdienst des jungen Bundeskanzlers zu sein, der Bremser und frühere Vetokräfte in seiner Partei zur Seite geräumt hat, als er die alte ÖVP zur neuen Volkspartei umgestaltet hat. Kurz scheint einen relativ festen ordnungspolitischen Kompass zu haben und auch bei Gegenwind für seinen Kurs einzustehen.

Dasselbe kann man über seine Amtskollegin in Berlin leider kaum sagen. Mit Angela Merkels oft als Pragmatismus beschönigter Beliebigkeit, der chamäleonartigen Anpassungsfähigkeit an wechselnde Partner und den eher links wehenden Zeitgeist hat sie die einst konservativ-marktwirtschaftlichen Christdemokraten „modernisiert“, wie ihre Anhänger sagen, faktisch aber die CDU ideologisch entkernt und „sozialdemokratisiert und vergrünt“, wie ihre Kritiker sagen. Fakt ist, dass sie in entscheidenden Momenten blitzschnell ihre Politik um 180 Grad gewendet hat.

Zu den bekanntesten abrupten Wenden der Merkel-Zeit zählen die deutsche Energiewende (nach der zunächst beschlossenen Verlängerung der Atomkraft-Laufzeiten plötzlich ein panikartiger Ausstieg wegen der Havarie eines Kernkraftwerks 2011 im fernen Japan); der Zickzackkurs in der Eurokrise seit 2010 mit immer mehr Hilfspaketen für Griechenland (womit das einstige No-Bail-out-Prinzip in der Währungsunion zur Leerformel wurde); schließlich – und am folgenschwersten – die Grenzöffnung im Alleingang im Herbst 2015.

Eine Lawine losgetreten

Dabei hat die deutsche Regierungschefin nicht bedacht, welche Sogwirkung die Ausrufung der „Willkommenskultur“ auf weitere Migrantenströme haben würde. Ihr Parteifreund, Finanzminister Wolfgang Schäuble, verglich Merkels Tun damals mit dem eines Skifahrers, der unbedacht eine Lawine lostritt.

Die Migrationskrise war der Beginn der Entfremdung zwischen Berlin und Wien und ganz Ostmitteleuropa, die leider von Berlin verschuldet wurde. Wien hat sich dagegen geschickt als neuer Leitpartner für den ostmitteleuropäischen Raum platziert, der auch wirtschaftlich für Österreich von größter Bedeutung ist.

Heute bemüht sich Österreich erfolgreich um eine enge Partnerschaft mit den Staaten Mittelosteuropas. Gleichzeitig will die Regierung in Wien wie die Mittelosteuropäer berechtigterweise die Migration kontrollieren. Die Sogwirkung von Sozialleistungen auf Migrantenströme verringert Österreichs neue Regierung durch eine geringere Mindestsicherung. Auch die Verringerung des Kindergelds für Familien im EU-Ausland steht an, selbst wenn das einen Konflikt mit Brüssel bedeutet.

Berlin streitet, handelt kaum

Die bundesdeutsche Koalition dagegen redet nur oder streitet, aber sie handelt zu wenig. „Fluchtursachen“ will Bundeskanzlerin Merkel langfristig bekämpfen, doch faktisch geschieht kaum etwas. Ihr größter Schritt zur Eindämmung der illegalen Migration war das Abkommen mit Präsident Recep Tayyip Erdoğan, das sie aber in eine ungemütliche Abhängigkeit von der Türkei und von dessen Neo-Sultan gebracht hat.

Wegen seiner zupackenden Macherqualitäten ist der heutige österreichische Kanzler zur „Anti-Merkel“ ausgerufen worden. Trotz seiner Jugendlichkeit hat Kurz mehr Standfestigkeit bewiesen als mancher altgedienter politischer Haudegen. Wiens Agieren in der Flüchtlingskrise war pragmatisch, während Berlin ideologisch festgefahren wirkte.

Konsequent ist die Regierung Kurz in der Europapolitik und in der Frage des EU-Budgets aufgetreten. Gemeinsam mit anderen Staaten wie den Niederlanden hat Österreich darauf gedrungen, das EU-Budget zu verschlanken und die EU auf ihre Kernaufgaben zu beschränken – anders als Berlin, das neue zusätzliche Milliarden-Zahlungen in Aussicht stellte, um die Brexit-Lücke zu füllen, wenn die Briten, die zweitgrößten EU-Nettozahler, demnächst fehlen.

Zentralismus bekämpfen

Nötig wäre eine EU-Reform, welche die zentralistischen Tendenzen stoppt und die Union auf ihre Kernaufgaben beschränkt, darunter der Schutz der Außengrenzen und das Funktionieren des Binnenmarkts mit einem fairen Wettbewerb.

Eine europafreundliche Haltung gehört zur DNA der Volkspartei. Gleichzeitig ist eine realistisch-skeptische Haltung notwendig gegen alle weiteren Vorstöße, die Währungsunion zu einer Schulden-Haftungsunion auszubauen. Indirekt geschieht dies schon durch das Anleihenkaufprogramm der Europäischen Zentralbank in Billionenhöhe.

Die Kräfte, die in Deutschland gegen die Mutation der Währungsunion zur Haftungs- und Transferunion kämpfen, können Unterstützung durch die Volkspartei gut gebrauchen.

E-Mails an:debatte@diepresse.com

DER AUTOR

Dr. Philip Plickert (* 1979 in München) ist Wirtschaftsredakteur der „FAZ“. Er lehrte als Dozent an deutschen Universitäten. 2017 hat er das Buch „Merkel: Eine kritische Bilanz“ herausgegeben. Der abgedruckte Text ist ein gekürzter Beitrag aus dem Band „Offen für Neues. Analysen und Einschätzungen zum ersten Jahr der neuen Volkspartei“ (Edition Noir).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.06.2018)

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