Erdoğans Entgleisung

Der türkische Premier droht, 100.000 Armenier auszuweisen. Das weckt üble Erinnerungen.

Recep Tayyip Erdoğan ist ein Glückspilz. Da gerät der türkische Premier mit seiner islamisch-konservativen AK-Partei in Bedrängnis wie lange nicht – es droht ein neues Verbotsverfahren –, und er bekommt die Munition zum nationalistischen Ablenkungsmanöver frei Haus, durch die parlamentarischen Resolutionen in den USA und Schweden. Sie nennen die Armenier-Massaker im Osmanischen Reich 1915 beim angemessenen Namen: Völkermord.

Das folgende Gepolter aus Ankara und die Rückberufung der Botschafter mögen nicht klug gewesen sein, bewegten sich aber im gewohnten Schmoll- und Erregungsrahmen für solche Fälle. Doch mit der nun ausgesprochenen Drohung, die Türkei könne ja „notfalls“ 100.000 illegal im Land lebende Armenier ausweisen, ist Erdoğan entgleist.

Freilich kann jedes Land entscheiden, wie es mit Menschen ohne Aufenthaltstitel umgeht. Das ist aber kein Freibrief, sie zu Opfern eines diplomatischen Kräftemessens zu machen. Abgesehen vom üblen Geruch und den historischen Assoziationen. Man muss gar nicht bis 1915 zurückgehen: 1964 etwa wies die Türkei nach Konflikten auf Zypern auf einen Schlag die meisten jener Istanbuler Griechen aus, die trotz der Pogrome neun Jahre zuvor geblieben waren.

Verräterisch ist auch die Andeutung, den Entspannungsprozess mit Armenien zu stoppen, der 2009 in ein – bisher nicht ratifiziertes – Abkommen mündete. Damit würde die Türkei nur demonstrieren, dass es ihr mit der Annäherung an Armenien nie ernst gewesen ist.


helmar.dumbs@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.03.2010)

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