Es war der Kranich

Wer die Wörter nicht kennt, kann die Vögel auch nicht benennen.
Wer die Wörter nicht kennt, kann die Vögel auch nicht benennen.(c) Ute Woltron
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Wer die Dinge nicht mehr benennen kann, der kennt sie auch nicht mehr. Kraniche mit Störchen zu verwechseln, das darf nicht sein.

Glücklicherweise war der vergangene Freitag einer dieser prachtvollen, gleichwohl gespenstisch warmen Herbsttage, und die Fenster standen offen. Wäre es nebelig gewesen, hätte ich das Ereignis verpasst. Doch so waren die Vogelschreie selbst drinnen noch zu hören. Seltsame, unbekannte Rufe, es mussten viele sein, ich ging hinaus.

Über dem Haus kreiste ein Schwarm riesiger Vögel. Weite schwarze Schwingen, weiße Bäuche, lange Hälse und Beine, elegant im Flug gestreckte Zehen wie Luftballerinen. Der Schwarm war gewaltig. Hunderte Vögel malten faszinierende Schlierenbilder ins Himmelsblau, wie man sie von den Schwärmen der Stare kennt, nur majestätischer, bedächtiger und viel größer.

Die Vögel warteten offensichtlich auf etwas, und wenig später war auch klar, worauf. Ein weiterer Trupp kam dahergeflogen, und für einen Moment wirbelten die beiden Schwärme wie zwei Rauchwolken zu einem einzigen zusammen, bildeten mehrere V-Formationen und erst dann verschwanden sie gemeinsam zielstrebig in Richtung Südwest. Was für ein Spektakel!

Aufgrund der Rufe und der Silhouette war klar, dass es sich nicht um Wildgänse handelte, die ebenfalls gern mit ihrem charakteristischen Geschrei und mit zischenden Schwingen im Herbst die Gegend überfliegen. Diese hier sahen eigentlich aus wie Störche, doch die Flügelfarbe passte nicht, jedenfalls nicht zum Weißstorch, und der Schwarzstorch fliegt angeblich nicht im großen Kollektiv. Außerdem ziehen Störche nicht im November, sondern Wochen früher gegen Süden.

Verlorene Wörter. Ornithologen mögen nun bekümmert die Köpfe schütteln, doch erst mithilfe der sozialen Medien und des Internets wurde offenbar: Es war der Kranich, und nicht der Storch. Warum das wichtig, ja geradezu elementar ist? Die Antwort steht im Vorwort eines eben erschienenen Buchs, „Der Beschwörungszauber für verlorene Wörter“.

Da heißt es: „Es waren einmal Wörter, die sich herausschlichen aus der Sprache der Kinder. Sie verschwanden so leise, dass es kaum jemandem auffiel – ein Verdunsten wie von Wasser auf Stein. Es waren Wörter, mit denen Kinder die Natur um sich herum benannt hatten: Blauglöckchen, Brombeere, Eichel, Eisvogel, Farn, Heide – dahin! [. . .] Die Wörter gingen verloren: Flatterten nicht mehr durch Kinderstimmen, fielen aus ihren Geschichten.“ Das Buch „Die verlorenen Wörter“ ist ein Gemeinschaftsprojekt des britischen Autors Robert Macfarlane und der Künstlerin Jackie Morris, und es hat eine Vorgeschichte. Das illustrierte „Oxford Junior Dictionary“, eine pädagogische Institution im englischsprachigen Raum, hatte in den neuen Ausgaben über die Jahre immer mehr dieser Wörter, die die Natur bezeichnen, verbannt und durch vermeintlich wichtigere zeitgenössische Begriffe ersetzt.

Namhafte Autorinnen und Autoren verfassten daraufhin eine Protestnote. Sie stellten die Frage: Wollen wir tatsächlich ein Alphabet für Kinder, in dem A für Attachment steht, B für Blocksatz und C für Chatroom? Oder soll B nicht wieder für das Blauglöckchen, E für den Eisvogel, M für den Molch stehen? Das wunderbar illustrierte Buch über Natter, Weide, Zaunkönig war die Antwort der beiden darauf, denn, wie Macfarlane sagte: „Wir kümmern uns nicht um Dinge, die wir nicht kennen, und wir kennen nicht, was wir nicht benennen können.“

Die Antwort der Oxford University Press auf die Protestnote fiel hingegen lapidar aus. Die Verleger des bebilderten Kinderlexikons meinten, in älteren Versionen gebe es etwa noch viele Beispiele für verschiedene Blumen. „Das war der Fall, weil viele Kinder noch in semiruralen Gegenden lebten und die Jahreszeiten sahen. Heutzutage hat sich das Umfeld verändert.“

Vögel, oder? Tatsächlich. Doch es kann nicht lediglich als nostalgischer Ausflug in die eigene Kinderwelt an Bachufern abgetan werden, wenn gegen den Verlust der Wörter und damit der Verbindung zur Natur protestiert wird. In der Generation der Stubenhocker und Computerspieler, der rund um die Uhr bespaßten kleinen Egomanen, sowohl in der Stadt als auch auf dem Land, wachsen nicht nur Unverständnis und Ignoranz der nicht nur von Menschen belebten Natur heran.

Als ich eines Frühlingstages in der U-Bahn saß und in den Himmel schaute, flogen die ersten Schwalben durch die Bläue. „Wie schön“, sagte ich zu den Schulkindern neben mir, „schaut nur, die Schwalben sind zurück, der Sommer kündigt sich an.“ Sie sahen mich fragend an, schauten in den Himmel und sagten dann vorsichtig: „Das sind Vögel, oder?“

Im Seewinkel: Vögel schauen

BirdLife Österreich ist die Anlaufstelle für Leute, die noch viel mehr über Vögel wissen wollen, etwa wenn sie, wie ich, im ersten Moment Kraniche mit Störchen verwechseln. Das kann man entweder über die ausführliche Website, www.birdlife.at, tun, oder man begibt sich auf eine der vielen Exkursionen, die von den Ornithologen organisiert und angeboten werden. Für die herbstlichen Kranichzüge ist es fast schon zu spät, aber beispielsweise der Gänsezug im Seewinkel steht mit Ende November noch bevor. Am Sonntag, den 25. 11. werden die Gänse – darunter auch seltene Arten – ganztägig unter Begleitung von Johann Frießer beobachtet. Im Jänner geht es u.a. um Greifvögel und Wintergäste im österreichischen Teil des Hanságs, etwa Kaiser- und Seeadler. Alle Infos dazu auf der Website. ?Wikipedia

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.11.2018)


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