Burn-out-Portal: Zeit der Neuorientierung

(c) AP (Alberto Saiz)
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Die Grazer Wirtschaftswissenschaftlerin Lisbeth Jerich hat neue Gründe für das Ausgebranntsein entdeckt.

„Burn-out ist nur selten eine Folge von Arbeitsstress, vielmehr setzt die Entfremdung von der Arbeit den Burn-out-Prozess in Gang“, meint Lisbeth Jerich. Anders als der Mainstream der internationalen Burn-out-Forschung geht Jerich davon aus, dass der Burn-out-Prozess durch „Depersonalisierung“, also durch eine aufgrund der Arbeitsbedingungen hervorgerufene Entfremdung von der Arbeit und letztlich von sich selbst, in Gang gesetzt wird.

Die Absolventin des Handelswissenschaften-Studiums an der WU Wien und des Doktoratstudiums der Betriebswirtschaft an der Karl-Franzens-Universität Graz, weiß aus eigener (leidvoller) Erfahrung, wovon sie spricht: Als Teenager war sie Tennisprofi und erlebte zum ersten Mal das Gefühl des Ausgebranntseins. Als langjährige Leiterin für Human Resources Management musste sie die Erfahrung ein weiteres Mal machen. Dann wurde sie vom Opfer zur „Täterin“, fokussierte ihre Arbeitsgebiete im Bereich des State-of-the-Art-Personalmanagements und in der Burn-out-Forschung.

Ihre Erkenntnisse kommuniziert die Mutter eines Sohnes im Volksschulalter als Lehrbeauftragte, Seminarreferentin und Autorin. Für ihr Buch „Burn-out. Ausdruck der Entfremdung“ (Leykam Verlag) ist sie mit dem United Academy Wissenschaftspreis 2007 für besondere Forschungsergebnisse auf dem Gebiet der Wirtschaftswissenschaften ausgezeichnet worden.

Vor drei Wochen öffnete sie die Pforten ihres webbasierten, anonymen Burn-out-Portals. Unter www.burnoutportal.at fordert Jerich zu einem Perspektivenwechsel auf: „Burn-out wird in unserer Leistungsgesellschaft als Krankheit oder psychisches Problem verstanden. Stress, Überarbeitung, eine schwache Persönlichkeit, geringe Belastbarkeit etc. werden dabei als Ursachen für die Entstehung von Burn-out herangezogen. Dieser Irrglaube verhindert eine dauerhafte Hilfe für Betroffene und wirksame Präventionsarbeit in Organisationen und Unternehmen“, konstatiert Jerich. Die Interpretation von Burn-out als individuellem Problem der Schwäche berge die Gefahr, dass Berufstätige Anzeichen und Symptome vor sich und anderen verleugnen und keine Hilfe in Anspruch nehmen.

Im ersten anonymen Burn-out-Portal finden Betroffene Hilfe zur Selbsthilfe und erschwingliches Coaching. „Meine Hilfe zur Selbsthilfe erfolgt via E-Mail und ist vollkommen anonym und unabhängig von Raum und Zeit. Die Asynchronizität der Kommunikation ermöglicht es mir, eine für alle leistbare, finanziell nicht belastende Hilfestellung anzubieten.“ Jerich richtet sich an Menschen, die ihrem Leben eine neue Richtung geben wollen. „Zeiten der Neuorientierung verunsichern. In der Erwerbsarbeit fühlen sich viele Menschen als Spielball wirtschaftlicher Entwicklung, die sie selbst nicht steuern können. Ihr Gestaltungsspielraum scheint klein, und sie lassen sich schnell entmutigen“, weiß die Portalsgeschäftsführerin.

Raus aus der Identitätskrise

Wer seine echten Gefühle, Träume und Visionen auf Dauer zugunsten des Berufslebens opfert, bleibt schlussendlich ausgelaugt über. Und einsam. In der anonymen Burn-out-Community ist Austausch möglich, Solidarität erfahrbar. „Die Gesundheitsarbeit, die in der Gemeinschaft geleistet wird, hilft bei der Bewältigung syndrombedingter Angst, Scham und Unsicherheit, beim täglichen Zurechtkommen mit dem Burn-out-Syndrom im Alltag (Beruf, Familie), der Trauer und Depression über erlittene Einschränkungen der Teilhabe am öffentlichen Leben, über Rollen- und Integrationsverlust, das Erlebnis sozialer Stigmatisierung, das heißt des Ausgeschlossenseins von vollständiger sozialer Anerkennung und um Minderung des Selbstwertgefühls, sowie Identitätskrisen“, verspricht Jerich.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.03.2010)

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