„Wir sind zum Reden geboren“

Philologe, Theologe und Schulreformer: zum 450. Todestag von Philipp Melanchthon, dem wirkmächtigen Weggefährten Luthers und Lehrer eines ganzen Kontinents.

Philipp Melanchthon wurde am 16. Februar 1497 in Bretten (damals Pfalz, heute Baden) geboren. Schon im Elternhaus geriet er durch seinen Hauslehrer unter den Einfluss des Humanismus. Der kleine Philipp lernte schnell, angeblich beeindruckte er schon als Kind am Brettener Brunnen die durchziehenden Studenten mit seinen Lateinkenntnissen. Mit elf Jahren kam er auf die Lateinschule nach Pforzheim. Er wohnte bei entfernten Verwandten, den Reuchlins. Johannes Reuchlin erkannte das Talent Philipps und gab ihm – ganz dem humanistischen Brauch der Zeit folgend – eine gräzisierte Version seines Namens. Aus Philipp Schwarzerdt wurde Philipp Melanchthon. Nach dem Studium in Heidelberg und Tübingen veröffentlichte der junge Gelehrte 1516 sein erstes Buch, eine Ausgabe der Komödien des Terenz. Dann widmete er sich Plutarch und Aristoteles und setzte sich an seine Griechischgrammatik, die für Jahrhunderte in mehr als 40 Auflagen in Gebrauch sein sollte.

1518 kam er als Griechischlehrer an die Leucorea, die junge Universität in Wittenberg. Seine äußere Erscheinung war alles andere als eindrucksvoll. Philipp Melanchthon war nur ein Meter 50 groß, er hatte eine dünne Stimme und einen Sprechfehler, der es ihm sogar schwer machte, den eigenen Familiennamen problemlos auszusprechen. Auf der Straße – so heißt es – riefen ihm die Kinder Spottverse nach. Doch das änderte sich bald. Langsam wurde Philipp Melanchthon in Wittenberg zum Freund und Weggefährten Martin Luthers. Die beiden so unterschiedlichen Charaktere ergänzten sich. Ohne Philipp Melanchthon gäbe es keine Bibelübersetzung Luthers, er ist der Verfasser der „Confessio Augustana“, des „Augsburger Bekenntnisses“ von 1530, durch ihn gewann die evangelische Kirche in ganz Europa Gestalt und Organisation. Sein Einfluss reichte von Island bis nach Siebenbürgen, von Finnland nach Italien. Philipp Melanchthon war nicht nur der „Lehrer Deutschlands“, der Praeceptor Germaniae, sondern gilt mit Fug und Recht als Lehrer Europas. Am 19. April 1560 ist er in Wittenberg gestorben. Der Tod war für ihn, den begeisterten Lehrer, ein „Übergang in die himmlische Akademie“. Sein Grab findet sich in der Wittenberger Schlosskirche neben dem Grab Luthers. Die beiden gleich gestalteten Grabdenkmäler stehen auch für Glaube und Bildung, die nach evangelischer Überzeugung zusammengehören. Philipp Melanchthon war von allseits bewunderter Gelehrsamkeit. Er war als Professor für Griechisch in Wittenberg tätig.

Mehr als 50 Schulgründungen

Durch Luthers erzwungenen Aufenthalt auf der Wartburg musste er dessen Vorlesungen zu biblischen Büchern übernehmen und wurde auch so nach und nach zum Theologen, was er durch den Erwerb des Bakkalaureats in Theologie auch formell erfüllte. Seine „Loci communes“ von 1521 gelten als erste lutherische Dogmatik, die bis heute Maßstäbe setzt. Aber seine gelehrte Kompetenz reichte weit über Philologie und Theologie hinaus. Geografie und Medizin, Astronomie und Dialektik bezeichnen das Spektrum, in dem er sich durch Publikationen und Lehrbücher europaweit einen Namen machen konnte.

Bahnbrechend war seine Wittenberger Antrittsvorlesung vom 28. August 1519, „De corrigendis adulescentiae studiis“. In ihr entwarf er das Leitbild des universitären Lehrens und Lernens, das bis weit ins 19. Jahrhundert hinein bestimmend war. Er lehnte das vom Geist der Scholastik geprägte Lernen von vorgefertigtem Wissen ab. Notwendig war die Kenntnis der ursprünglichen Quellen, also in erster Linie Aristoteles, Platon, Cicero. Dafür war eine gründliche Kenntnis des Lateinischen und Griechischen unverzichtbar. Für die Theologie kam dann noch Hebräisch dazu. Neben der klassischen Bildung kam der Geschichte ein ebenso hoher Rang zu. Bemerkenswert auch seine Hochschätzung der Naturwissenschaften, er sah einen inneren Zusammenhang zwischen der Missachtung der Mathematik und dem Niedergang der Theologie.

Zur Vorbereitung eines erfolgreichen Studiums war eine Grundlegung in der Schule vonnöten. Philipp Melanchthon setzte sich dafür ein, dass jedes Kind Zugang zur Schulbildung erhielt. Als der Rat der Stadt Nürnberg daranging, das Schulsystem der Stadt zu reformieren und eine neue „höhere Schule“ zu gründen, wurde Philipp Melanchthon als Berater beigezogen. So konnte er – aufbauend auf einer nach seinen Vorstellungen reformierten dreiklassigen Lateinschule – die höhere Schule als eine vom Geist des Humanismus und der Renaissance geprägte Artistenfakultät einrichten, die eine optimale Vorstufe des Universitätsstudiums bilden sollte. Dialektik und Rhetorik, Latein und Griechisch, Musik und Mathematik standen im Vordergrund. Die Beschäftigung mit den Quellen wurde ebenso betrieben wie der freie Umgang mit den Sprachen durch eigene Dichtungen, selbst verfasste Reden und Theaterstücke. Nur wer sprechen kann und sich auszudrücken weiß,kann am Gespräch der Wissenschaften teilnehmen. Geschichte, die große Lehrmeisterin für alles, vor allem das politische Handeln, darf nicht fehlen. Dieses Pilotprojekt in Nürnberg wurde allseits bekannt und begründete Philipp Melanchthons Ruf als Schulreformer. An mehr als 50 Schulgründungen war er beteiligt, und in seiner Visitationsordnung, durch die das Kirchenwesen neu gegründet wurde, achtete er auf die Schulen mit derselben Aufmerksamkeit, die dem kirchlichen Leben im engeren Sinn zukam.

Allein die Tatsache, dass er sich in seinen Reden immer wieder nicht nur an die Professorenkollegen und die Träger der Universitäten, also vor allem die Fürsten, richtete, sondern ausdrücklich auch an die Studierenden, zeigt die Grundrichtung an. Jeder Student sollte in Begleitung eines Tutors einen individuellen Studienplan erhalten, der ihm eine auf die individuellen Bedingungen zugeschnittene Gestaltung des Studiums ermöglichte. Philipp Melanchthon, seit 1523 Rektor der Universität, lebte seine schul- und hochschulpolitischen Überzeugungen auch im Alltag. In seinem Haus in Wittenberg sammelte er eine lebendige Gemeinschaft von Studierenden um sich, die mit ihm, seiner Frau Katharina, die eine Tochter des Wittenberger Bürgermeisters war, und ihren eigenen Kindern in einer Art Wohngemeinschaft lebten. Einmal rühmte er sich, dass an seinem Mittagstisch elf verschiedene Sprachen gesprochen wurden. Verständigt hat man sich natürlich auf Lateinisch.

Die Schul- und Universitätsreform war Philipp Melanchthon zeit seines Lebens ein Anliegen. Er steht für den Übergang von der spätmittelalterlichen, scholastisch-philosophisch geprägten Artistenfakultät hin zur neuzeitlichen Universität mit den beiden Schwerpunkten der klassischen Bildung und der Naturwissenschaften.

Spätestens seit dem Augsburger Reichstag von 1530 wusste Melanchthon, dass es in der Auseinandersetzung zwischen den Reformatoren und den Verteidigern der „Altgläubigkeit“ mit dem Kaiser an der Spitze weder um abgehobene akademische Streitereien noch um bloße Kirchenpolitik ging, sondern um massive Machtpolitik in Europa, die letztlich auf eine kriegerische Auseinandersetzung hinauslief. Der Gedanke, dass es im Streit um religiöse Wahrheiten, womöglich sogar im Namen Gottes, zum Krieg kommen könnte, beunruhigte ihn zutiefst. Sicher spielt hier seine Erinnerung an die Kindheit mit. Als er sieben Jahre alt war, wurde seine Heimatstadt Bretten zum Kriegsschauplatz mit Belagerung, Kanonenbeschuss und Straßenkämpfen. Das hat sich dem kleinen Philipp Schwarzerdt tief eingeprägt. Dazu kam, dass der von ihm geliebte Vater, der sich als Waffenschmied und Rüstmeister verdingte, als körperliches und seelisches Wrack aus dem Krieg heimkam und vier Jahre später starb.

Melanchthon verabscheute den Krieg nicht nur deshalb, weil er die evangelische Sache bedrohte, sondern weil mit ihm ein Niedergang der Bildung und ein Rückfall in die Barbarei einhergehen mussten. Gerade in Glaubensfragen darf es keine gewaltsamen Lösungen geben. Davon überzeugt, beteiligte sich Melanchthon federführend an den diversen Religionsgesprächen, die einenAusgleich anstrebten.

Als Ökumeniker neu entdeckt

Er meinte, „es soll die strittige Religion nicht anders als durch christliche, freundliche undfriedliche Mittel und Wege zu einhelligem, christlichem Verständnis und Vergleich gebracht werden“. Für diese Überzeugung wurde er sowohl von den katholischen Gegnern wie auch von Gegnern aus dem eigenen Lager des Wankelmuts, des Kompromisslertums und der Leisetreterei geziehen. Heute wird er als Ireniker und Ökumeniker neu entdeckt, seine Maxime „Wir sind zum Gespräch miteinander geboren“ gibt wichtige Impulse für aktuelle Fragen.

Hatte Melanchthon Beziehungen nach Österreich? So wie einige andere auch war der Wiener Bischof Johannes Nausea darum bemüht, den brillanten und gesprächsbereiten Gelehrten aus Wittenberg „heimzuholen“ ins Lager der vermeintlichen Rechtgläubigkeit. Sogar die Kardinalswürde soll Melanchthon angeboten worden sein. Aber diese Bemühungen blieben ohne Erfolg.

Im Schweizertor des Inneren Burghofes in Wien findet sich eine Eingravierung, die wohl von einem Schweizer Gardisten stammen dürfte, der dort Wache schieben musste. Da steht: Si deus pro nobis, quis contra nos – und daneben als Jahreszahl 1640. Dieses Zitat aus dem Römerbrief des Paulus war Melanchthons biblisches Lebensmotto. Zufall? Oder wusste der aus Langeweile zum Graffitokünstler gewordene Soldat etwas von ihm?

Wie dem auch sei: Dieses Zitat steht für eine entscheidende Erkenntnis der Reformation: Das Individuum, das sich allein auf Gott verlässt und sich allein von Gottes Gnade getragen weiß, ist befreit vom Gehorsam gegen beliebige weltliche Instanzen. Kaiser und Papst, also Politik und institutionalisierte Religion, haben keine Macht mehr über die Gewissen. Der mündige Christenmensch hat sich hier verewigt. Der mündige Bürger und die mündige Bürgerin werden folgen, war doch die Reformation so etwas wie eine Aufklärung vor der Aufklärung. Dass die Bindung an Gott befreiende Wirkung haben und zum Einstehen für Menschenrechte befähigen kann, das verdankt Europa Persönlichkeiten wie Melanchthon. Auch wenn er den Praeceptor Germaniae nicht gekannt haben soll, das zumindest hat der anonyme Schweizer Gardist in Wien begriffen. Und das ist die Hauptsache. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.04.2010)

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