Downsyndrom: Behindert - und begabt

Behindert ndash begabt
Behindert ndash begabt(c) REUTERS (MOHAMMED SALEM)
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Sie können mit sieben Jahren 150 Lieder und schaffen im Einzelfall sogar einen Universitätsabschluss: Das Entwicklungspotenzial von Menschen mit Downsyndrom ist viel größer als bisher angenommen.

Holly hat beim Besuch ihrer Schulklasse in einem Seniorenheim ein Gedicht aufgesagt. Die Siebenjährige hat den Text flüssig und selbstbewusst vorgetragen. Noch vor einigen Jahren hätten ihre Eltern diesen Auftritt nicht für möglich gehalten. Denn Holly hat Downsyndrom. „Inzwischen wissen wir aber, dass Holly sich Texte außergewöhnlich schnell merken kann,“ erklärt Hollys Vater, Jens Hurtig, stolz. „Am Anfang dachten wir, das sei eine Inselbegabung – und damit möglicherweise ein Hinweis auf eine weitere Behinderung. Da war uns noch nicht klar, dass eine Behinderung nicht automatisch außerordentliche Begabungen ausschließt.“

In Österreich wird bei etwa einem von 800 Neugeborenen das Downsyndrom diagnostiziert, eine Chromosomenbesonderheit. Die betroffenen Eltern sind meist kurzfristig schockiert. Und langfristig besorgt. Sie fürchten, dass ihr Kind ein isoliertes Leben führen muss, nur rudimentär sprechen kann, nie lesen und schreiben lernt. Szenarien, die immer seltener Realität werden.

Denn Kinder mit Downsyndrom sind erstaunlich lernfähig – wenn man ihnen eine Chance gibt und sie richtig fördert. Die noch vor Kurzem gängige Prognose, dass Menschen mit Downsyndrom ihr Leben lang nicht über das geistige Niveau von Kindergartenkindern hinauskommen, wird heute von den meisten Betroffenen eindeutig widerlegt. Besonders deutlich ist dies der Japanerin Aya Iwamoto und dem Spanier Pablo Pineda gelungen: Beide haben Universitätsstudien abgeschlossen. Zwar bleiben derartige Ziele langfristig wohl für viele Menschen mit Downsyndrom unerreichbar. Unterschätzen sollte man das Potenzial der Betroffenen aber dennoch nicht.

Bei gezielter Förderung lernen die meisten Kinder mit Downsyndrom sinnerfassend Lesen und Schreiben. Wie groß ihr Entwicklungspotenzial wirklich ist, lässt sich noch nicht genau sagen. Wohl aber, dass die Bandbreite ihrer Talente und geistigen Fähigkeiten der „normaler“ Menschen vergleichbar ist. Und dass eines auch für sie besonders wichtig ist: der Spaßfaktor.

„Menschen mit Downsyndrom sind sehr emotional und viel weniger rational gesteuert als andere Menschen. Leistungsdenken und Materialismus sind ihnen fremd. Deshalb ist es für sie wichtig, mit Emotionen zu lernen. Dann können sie viel mehr erreichen, als man lange geglaubt hat,“ erklärt Bernadette Wieser. Die Pädagogin leitet das Downsyndrom-Zentrum „Leben Lachen Lernen“ in Leoben. Der Grundgedanke hinter ihrem pädagogischen Konzept: Lachen und Spaß als Türöffner für neue Wissensinhalte.

„Mähdrescher“ statt „Mimi“. Die individuellen Förderkonzepte passen nicht nur zu den Fähigkeiten der Kinder, sondern vor allem auch zu ihren Interessen. Die ersten Wörter, die Kinder mit Downsyndrom sinnerfassend lesen lernen, sind mitunter sperrige Buchstabenungeheuer wie „Mähdrescher“, „Spaghetti“ oder „Misthaufen“. Sind Volksschulklassiker wie „Mimi“ oder „am“ nicht einfacher zu erlernen? „Nicht für ein Kind mit Downsyndrom,“ meint Wieser. „Nur wenn ich den Alltag des Kindes ins Lernen miteinbeziehe, kann ich es motivieren und ihm zeigen, dass es für das Leben – für sein eigenes nämlich – lernt.“ Auf Wiesers Konzept beruht auch ein von der EU gefördertes „Lifelong learning“-Projekt: Unter dem Titel „Yes, we can!“ wird Jugendlichen und Erwachsenen mit Downsyndrom geholfen, ihre Fähigkeiten im mathematischen Bereich zu verbessern. Das Projekt wird in Dänemark, Deutschland, Italien, Rumänien und Tschechien umgesetzt.

Auch in der Downsyndrom-Ambulanz der Wiener Rudolfstiftung wird hauptsächlich mit Förder- und Lernmaterialien gearbeitet, die den spielerischen Aspekt miteinbeziehen. Das Langzeitprogramm „move/eat“ soll Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit Downsyndrom zudem den Weg zu gesunder Ernährung und verschiedenen Sportarten zeigen. „Sport steigert die Lebensqualität und hilft, die motorischen Fähigkeiten zu trainieren,“ sagt Bettina Baltacis, Leiterin der Downsyndrom-Ambulanz.

Therapie ist nicht alles. Zwischen Förderung und Überforderung liege aber nur ein schmaler Grat, der oft überschritten werde, wenn Therapeuten oder Eltern zu viel wollen und den Kindern mit der Chromosomenbesonderheit einen Therapie- und Trainingsmarathon zumuten. „Es muss immer Zeit für das zweckfreie Spielen und Kindsein bleiben,“ mahnt Baltacis. Wobei das „zweckfreie Spielen“ auch positive Nebenwirkungen habe. „Die Kids bauen Lerninhalte in Spielsequenzen ein und vertiefen damit ihr Wissen,“ so Baltacis. Entscheidend sei auch die „alltägliche“ Förderung – die Inputs, die Kinder mit Downsyndrom in ihrem privaten Umfeld bekommen.

Hobbys sind ein wichtiger Schlüssel zur Bildung. So wie bei Florian. Der 14-Jährige liebt Musik und den SK Rapid. Das erkennt man sofort an den Postern und grünweißen Fahnen in seinem Zimmer. Vor einigen Jahren hat Florian angefangen, Zeitungsartikel zu lesen, in denen etwas über seine Lieblingsbands oder seinen Fußballklub steht. Mittlerweile zählt auch Lesen zu seinen Hobbys. „Vor allem Tom Turbo ist toll,“ schwärmt Florian.

Trötofant gegen schlaffe Muskeln.Wichtig beim spielerischen Lernen ist aber auch das richtige Spielzeug. So hat etwa Jakob, 15, relativ lange relativ undeutlich gesprochen. „Schuld daran war die Hypotonie,“ meint Jakobs Mutter, Claudia Colloredo. Hypotonie, auch „Muskelschlaffheit“ genannt, tritt bei vielen Menschen mit Downsyndrom auf. Claudia Colloredo hat nach einer Lösung des Problems gesucht, und den „Trötofanten“ gefunden. Ein Spiel, bei dem es darum geht, mit einer Tröte, die sich wie ein Elefantenrüssel zusammenrollt, Gegenstände einzusammeln. Damit hat Jakob seine Mundmotorik trainiert. „Der Trötofant war ganz entscheidend für seine Sprachentwicklung,“ ist sich Claudia Colloredo sicher. Sie hat weiter nach geeignetem Spiel- und Fördermaterial für Jakob gesucht und schließlich die Firma „Land of Toys“ gegründet, einen Internetversand für wertvolles Spielzeug. „Spielen ist Lernen,“ meint Colloredo, „und gerade für Kinder mit Downsyndrom ist es wichtig, dass Lernen Spaß macht.“


150 Lieder im Repertoire. Die Förderung kann aber auch zufällig passieren. So wie bei Holly Hurtig. Ihr Vater Jens ist Musiker, entsprechend viel Musik ist im Hause Hurtig zu hören. „Irgendwann haben wir gemerkt, dass Holly ein Lied nur ein paar Mal hören muss und es dann fast vollständig nachsingen kann,“ erzählt Hollys Mutter, Sonja Hurtig. Mittlerweile umfasst Hollys Repertoire an die 150 Songs, darunter viele englischsprachige Klassiker von Leonhard Cohen und Eric Clapton. „Alle warnen immer vor der Überforderung,“ meint Jens Hurtig. „Für mich liegt die größte Gefahr für Kinder mit Downsyndrom aber ganz woanders: in der Unterforderung.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.04.2010)

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