Rechts stehen, links denken

„Die Geschichte des österreichischen Volkes“: Ein Dreivierteljahrhundert nach der Niederschrift legt der Wiener Historiker Paul R. Tarmann die Aufzeichnungen des ehemaligen dritten Vizebürgermeisters von Wien, Ernst Karl Winter, in einer kommentierten Ausgabe vor.

Das Jahr 2018, das vom „Jubiläumsjahr“ immer stärker zum „Gedenkjahr“ mutierte, wich allen grundlegenden Konflikten der Republik aus. Mit Ausnahme der kritisch differenzierenden Dokumentationen Hugo Portischs einigten sich Parteienvertreter und Jubiläumsbeauftragte auf eine sehr verkürzte Darstellung dieser hundert Jahre, die in etwa so lautete: Die Erste Republik – Armut, Polarisierung, Gewalt auf beiden Seiten – endet in der Katastrophe 1938. Die Zweite Republik beginnt 1945 mit der Stunde null und endet als Erfolgsstory, in der die alten Gegner – miteinander versöhnt – gemeinsam Wohlstand produzieren. Neuere Entwicklungen inklusive neuer Polarisierungen wurden nicht unter die Lupe genommen. Auf der Strecke bleiben bei diesem Narrativ jene Faktoren und Akteure, die die Grundlagen für die neue Republik nach 1945 geschaffen und der Aussöhnung der beiden damaligen „Lager“ den Weg bereitet haben.

Einer der zentralen Wegbereiter dieser „Aussöhnung“ ist der Jurist und Soziologe Ernst Karl Winter, bekannt vor allem für seine „Aktion Winter“, durch die er in der Ära Dollfuß zum Dialog und zur Versöhnung zwischen Christlich-Sozialen beziehungsweise der Vaterländischer Front und den Sozialdemokraten aufrief. Sein Kampf galt dem aufkommenden Nationalsozialismus, aber auch der Appeasement-Politik der Konservativen gegenüber Mussolini und Hitler. Mit seiner Parole „Rechts stehen, links denken“ blieb er unter den Christlich-Sozialen ein einsamer Rufer. Dollfuß versuchte ihn 1934 durch die Ernennung zum dritten Vizebürgermeister in Wien ruhigzustellen, Schuschnigg hielt 1936 solche Alibi-Politik für überflüssig und entfernte ihn aus dem Amt.

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