Soll man seine Kinder noch in die Kirche mitnehmen?

(c) Peter Kufner
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Essay. Missbrauchsskandale erschüttern seit Jahren die katholische Kirche. Wo bleibt die Ansprache an Gläubige, die das Vertrauen verlieren?

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Mit vier Jahren lernte ich, ein Kreuzzeichen zu machen. Hand an die Stirn, ans Herz, linke Schulter, rechte Schulter. In der Volksschule sang ich begeistert Kirchenlieder im Religionsunterricht mit. Die Schulgottesdienste jeden Mittwoch waren an unserem katholischen Mädchengymnasium Pflicht. Ich empfing die heilige Kommunion, später meine Firmung, ich war sieben Jahre lang Ministrantin in meiner Gemeinde in der ehemaligen deutschen Hauptstadt Bonn.

Heute bin ich Mutter von zwei Kindern, sie sind mit vier und sechs Jahren getauft worden. Ein großes Fest war das, mit feierlichem Gottesdienst. Ihr Vater hielt die beiden über das Taufbecken.

Das war im Jahr 2017. Und schon an diesem Tag fragte ich mich, was passieren müsste, damit mein Glauben an die katholische Kirche – nicht an Gott! – noch mehr ins Wanken geraten könnte. Denn damals und nun seit Jahren versucht die Kirche eine Antwort auf die schweren Missbrauchsskandale zu finden, die mehrere Länder erschüttern. Und die schlimmste Krise der Kirche aller Zeiten scheint immer mehr Fahrt aufzunehmen.

Allmachtshaltung der Kirche

Ende Februar wurde publik, dass der bisherige Finanzchef des Vatikans, George Pell, quasi die Nummer drei des Kirchenstaats und einer der wichtigsten Berater von Papst Franziskus, von einem Gericht im australischen Melbourne wegen des sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen schuldig gesprochen wurde. Eine Jury von zwölf Geschworenen kam einstimmig zu der Überzeugung, dass er sich erwiesenermaßen in den 1990er-Jahren an zwei Chorknaben vergangen hat.

Das Spitzentreffen, das von Papst Franziskus lang zuvor einberufen worden war, aber dann mit der Verurteilung fast zeitgleich stattfand, enttäuschte trotz des vorgestellten Acht-Punkte-Plans die Opfer sowie ihre Verbände und die Gläubigen weltweit massiv. Die Gründe dafür sind vielfältig, nur zwei Dinge stehen seitdem unwiderruflich fest. Zum einen: Ohne Eingriffe des Rechtsstaats ist die katholische Kirche nicht von ihrer Allmachtshaltung wegzubewegen, um den Filz wegzuräumen, braucht es Gerichte, Gefängnisse, Höchststrafen.

Zum anderen haben es Papst Franziskus und die Gemeinschaft komplett verpasst, die Vertrauenskrise innerhalb ihrer Gläubigen-Gemeinschaft aufzufangen. Oder anders gesprochen, Gemeinde-Mitglieder und Kirchensteuerzahler wie mich abzuholen – Menschen, die ihr ganzes Leben schon an Gott glauben, und das in Verbindung mit der katholischen Kirche. Jene, die Momente des Trostes oder sogar Ratschläge in einem Beichtstuhl gesucht haben, die ihren Kindern aus der Bibel vorlesen. Wo bleibt die Ansprache an die Gläubigen, die dabei sind, endgültig das Vertrauen zu verlieren, weil Verbrechen innerhalb von Gemeinden immer noch unsagbare Dinge sind?

Als meine Kinder getauft wurden, kam zwei Wochen vor der Taufe der Pfarrer, der das Sakrament spenden sollte, zu uns nach Hause. Ich hatte Kuchen, ein Abendessen organisiert und den Kindern verboten, sich davon zu bedienen – so aufgeregt war ich über den hohen Besuch bei uns. Eine andere Mutter, deren Kind am selben Tag getauft werden sollte, kam dazu – und so saßen wir gegen 20 Uhr, als meine Kinder im Bett waren, mit dem Pfarrer in meiner Küche bei Käse und Törtchen.

Gespräch mit dem Pfarrer

Von der gemütlichen Stimmung offenbar beseelt, kam er ins Reden. „Das schwerste Verbrechen, das Menschen begehen können . . .“, setzte er an. Und die andere Mutter und ich schauten gebannt. „. . . ist die Abtreibung“, vollendete er seinen Satz. Was müssten Frauen für Menschen sein, die ihr Baby entfernen lassen, nein, so etwas sei unerhört, von Gott nicht gewollt, lamentierte er. Die Mutter und ich hörten seinem Fünf-Minuten-Vortrag fassungslos zu, dennoch sagte keine von uns beiden ein Wort. Sicher, wozu eine solche Situation eskalieren lassen, wozu einen 77-jährigen Pfarrer noch belehren, überlegten wir wohl. Im Nachhinein ist mir dieses Erlebnis aber schlecht in Erinnerung geblieben. Eine solche Situation, in der man hätte etwas sagen müssen, wir kennen sie alle.

Die Episode ist für mich jedoch mittlerweile sinnbildlich dafür, was die Kirche, die Pfarrer, die Bischöfe seit meinen frühesten Erinnerungen tun. Sie arbeiten mit einer Strategie, welche man in einem modernen Business-Kontext als Blameshifting (dt. „Weitergabe der Schuld an andere“, Anm.) verstehen würde. Oder auch dem in der Geschäftswelt geläufigen Kniff, das Problem zu leugnen, als sei es nicht existent, und dann mit einer eigenen Agenda oder Offensive zu beantworten. Diese lautet in diesem Fall offenbar so: „Was interessiert der Missbrauchsskandal, wenn weiterhin ungeborenes Leben getötet wird? Wie schlimm kann der Missbrauch gewesen sein, wenn wir doch jetzt zu der Einsicht gelangt sind, dass es einen Acht-Punkte-Plan geben kann, mit dem wir die kirchliche Ordnung wiederherstellen können?“

In diesem Plan formuliert Papst Franziskus, dass im Mittelpunkt des Handelns der Kinderschutz stehen müsse. Und weiter: Die Kirche werde „jeden, der solche Verbrechen begangen hat, der Justiz unterstellen“ und „nie versuchen, einen Fall zu vertuschen oder unterzubewerten“. Sätze, die Standardformulierungen aus der Politik oder dem Beschwerdemanagement eines Großunternehmens entstammen könnten. So wie: „Wir haben die Lage erkannt und das Problem behoben.“

Religion ist nichts Funktionales

Dabei ist Religion alles, aber nichts Funktionales, die Kirche fehlbar und offenbar von schlechter Kommunikation und Führungsschwäche durchzogen. Wer bringt nun diese technokratischen Lösungsansätze auf ein menschliches Level zurück? Oder anders gefragt: Wer beantwortet mir innerhalb der Kirche die Frage, ob es von mir als Elternteil unverantwortlich ist, meine Kinder Messdiener sein zu lassen? Sie in der Adventszeit für ein Krippenspiel zu begeistern? Meine Kinder ganz allgemein in die Obhut von Kirchenmitgliedern zu geben. Wäre das angesichts der aktuellen Schlagzeilen, der Verurteilungen grob fahrlässig? Sollte das die Gemeinde, der Pfarrer nicht von sich aus thematisieren? Die Bilder in unseren Köpfen werden wir als Gläubige und Nichtgläubige nicht mehr los. Und Trost oder Rat können wir bislang von dieser Kirche nicht erwarten.

Ebenso auch keine finanzielle Entschädigung, keine Rückgabe der Kirchensteuern. Der Politikwissenschaftler Carsten Frerk taxiert das Gesamtvermögen der Kirche auf rund 200 Milliarden Euro. Opferverbände beklagen, dass einzelne Betroffene bislang mit Entschädigungszahlungen von bis 5000 Euro de facto ruhiggestellt wurden.

Und wie schon so oft zuvor – bei der gleichgeschlechtlichen Ehe, beim Thema Abtreibung oder Verhütung – lässt der Vatikan eine weitere historische Chance verstreichen, sich seiner Basis, den Gemeinden, mit Lebensnähe und menschlicher Empathie zuzuwenden. Vielleicht, das werde ich bald sagen können, war es die eine zu viel.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

DIE AUTORIN

Caroline Rosales (* 1982 in Bonn) ist Autorin mehrerer Sachbücher, Redakteurin der Funke-Zentralredaktion in Berlin und Kolumnistin der „Berliner Morgenpost“ (unter dem Namen „Single Mom“). Ihre Beiträge bei „Zeit Online“ über Prostitution, Mode, Mutterrollen oder Weiblichkeit sorgen immer wieder für Debatten. Mit ihren beiden Kindern lebt die Autorin in Berlin. Gerade erschien „Sexuell verfügbar“ (Ullstein, 286 S., 18,50 Euro).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.03.2019)

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