Das Ende der Bescheidenheit

William Kentridge, pages for Second-hand Reading, 2013
William Kentridge, pages for Second-hand Reading, 2013(c) William Kentridge Studio, Johannesburg
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Hat unser Wohlstand ein problematisches Ausmaß erreicht? Sind wir tatsächlich zu einer Anspruchsgesellschaft verkommen, die verlernt hat zu verzichten? Ein Essay.

Marie Kondo schon auf Netflix gesehen?“ – „Ja, aber nur zehn Minuten lang“, antwortet Martin Gerhardus. Marie Kondo und er sind so etwas wie die Gewinnler der modernen Konsumgesellschaft. Die Japanerin ist Bestsellerautorin und Fernsehstar. Sie darf selbst bei der Oscar-Verleihung nicht fehlen. „Aufräumen mit Marie Kondo“ lautet ihre Netflix-Serie. Eine Mischung aus Ratgeber und Sozialvoyeurismus. Doch das Thema zieht viele in den Bann. „Ein Durchschnittsösterreicher besitzt 10.000 Dinge, fürs tägliche Leben benötigt er aber nur 500“, sagt Gerhardus. Der Wiener hat mittlerweile an die 50 Self-Storage-Filialen in Österreich, in Deutschland und in der Schweiz. Immer mehr Menschen mieten sich also bei ihm ein paar Quadratmeter Platz, um ihre Habseligkeiten aufzubewahren. Denn in der Wohnung, im Kellerabteil oder auf dem Dachboden ist schon alles voll. Und wegwerfen fällt uns äußerst schwer. Wir können uns nicht mehr von den Sachen trennen, die wir irgendwann einmal gekauft haben. In den seltensten Fällen handelt es sich dabei um wertvolle Sammlungen, sentimentale Andenken oder „das Gitterbett der Großmutter“, das Gerhardus in seinem Abteil aufbewahrt. Nein, es sind Töpfe und Teller, kaputtes Spielzeug; ausgeleierte Kleidung, der alte VHS-Rekorder. Es gelingt uns nicht einmal, auf Dinge zu verzichten, die wir gar nicht mehr brauchen.

Irgendwann hat es angefangen, das Ende der Bescheidenheit. Vor ungefähr 20 Jahren könnte es gewesen sein. Damals hat Gerhardus in Langenzersdorf bei Wien seinen ersten MyPlace-Self-Storage-Standort eröffnet.

Die pervertierte soziale Marktwirtschaft. Hat unser Wohlstand ein problematisches Ausmaß erreicht? Jener Wohlstand, den wir Europäer im Grunde zwei Revolutionen verdanken, der Französischen und der industriellen nämlich. Sie bewirkten, dass nicht mehr die Gnade der Geburt über unser Wohlergehen entscheidet. Im Kapitalismus kann zwar jeder reich werden, aber bei Weitem nicht alle. Genau das ist sein Dilemma.

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