Das sogenannte Böse 2.0

(c) Peter Kufner
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Was haben Staatsverweigerer oder Impfgegner eigentlich gemein, und welche Prozesse sind für ihre Entstehung verantwortlich?

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Es gab immer Junge und Alte, Stadt- und Landmenschen, Arbeiterinnen und Arbeiter, Gscheiterln und Exoten – aber irgendwie gehörte man doch zusammen, und gehörte auch „dazu“. Das ist heute, so der Befund der Wiener Philosphin Isolde Charim, nicht mehr der Fall. Die Pluralisierung der Gesellschaft, die Aufsplitterung in viele Teilgruppen, führe für viele zu einem Verlust dieses Zugehörigkeitsgefühls in ein, wie sie es nennt, „identitäres Präkariat“.

Konrad Lorenz wiederum, dessen Todestag sich im Februar zum 30. Mal jährte, näherte sich diesem Phänomen auf der Ebene der Verhaltensforschung und beschreibt eine Konsequenz der Entstehung solcher Teilgruppen, wenn er meint: „Ihr Verschiedenwerden voneinander (. . .) errichtet Schranken zwischen kulturellen Einheiten in ähnlicher Weise, wie divergierende Entwicklung dies zwischen Arten tut.“ Nicht unerwähnt darf hier bleiben, dass Lorenz selbst diesen Denkansatz bis hin zu einer Legitimierung der aktiven Ausgrenzung von Randgruppen verzerrt hat.

Es gibt also jedenfalls das starke Bedürfnis, die Schranken, die früher unsere gesamte Gesellschaft umgeben haben, um einzelne ihrer Segmente herum zu errichten, um wieder Identifikation zu ermöglichen und wahrgenommen zu werden. Dieses Bedürfnis geht einher mit einem generellen Misstrauen und einer Abgrenzung gegenüber dem Rest, dem „Establishment“ – also gegenüber Institutionen und Gruppen, die als mächtig, als tonangebend wahrgenommen werden.

Paralleluniversen entstehen

Lorenz beschreibt in seinem Werk „Das sogenannte Böse“ das aggressive Moment, das dieser Segmentierung innewohnt und durch fortschreitende Distanzierung zu einer totalen Entsolidarisierung führt. Teilgruppen der Gesellschaften leben dann geradezu in Paralleluniversen – in unterschiedlichen subjektiven Realitäten.

Wenn sogenannte Staatsverweigerer unsere Rechtsordnung und Institutionen nicht mehr anerkennen, Eltern ihre Kinder außerhalb des Regelschulwesens in eigene Anstalten mit obskurer Ideologie und extremem Gedankengut schicken oder ihnen den Impfschutz verweigern, weil dahinter ja ohnehin nur die dunklen Mächte der Industrie oder die „der Ostküste“ lauern, denen ja auch unterstellt wird, das Weltklima beeinflussen zu wollen, dann sind all dies aggressive Distanzierungen gegenüber „denen da draußen“. Eigentlich ist dieses Flüchten in Verschwörungstheorien nichts anderes als ein aggressives protestierendes Sich-Distanzieren von der Welt, wie sie ist. Man negiert Fakten und negiert Realitäten und gibt dem eigenen Selbst damit doch wieder Konturen zurück. Konturen, welche die verloren gegangene Identität wieder stiften und zusammen mit „Gleichverwirrten“ auch stark machen gegenüber denen, die sich in dieser verachtenswerten Welt der Wertgefüge, des Rechts und der Wissenschaften so peinlich assimiliert und angepasst zurechtfinden. Über soziale Medien und andere, oft eigens geschaffene und sich stets selbst bestätigende Informationskanäle erhält der neue Mikrokosmos, die neue „Scheinart“, ständig maßgeschneiderte Nahrung. „Es geht nicht darum“, schreibt Jakob Augstein im „Spiegel“, „die Wirklichkeit zu beschreiben – sondern eine neue zu erzählen und sie in der Erzählung zu erschaffen. Instinktreaktionen und mystische Erleuchtung ersetzen nüchterne Schlussfolgerungen.“

Nährboden der Intoleranz

Das aggressive Moment in diesem Schaffen von Scheinwirklichkeiten zeigt sich vor allem darin, dass mit der aktiven Abgrenzung vielfach auch ein hohes Maß an offener Diskriminierung und menschenfeindlicher Ablehnung einhergeht. Sowohl gegenüber der „Restgesellschaft“ generell als auch gegenüber einzelnen Minderheiten. Der Wesenskern einer modernen Art von Bösartigkeit. Die außerhalb des Regelschulwesens stehenden Lais-Schulen etwa fußen auf der aus Russland stammenden esoterischen Anastasia-Philosophie, die nicht nur verschwörungstheoretischen Charakter, sondern auch antisemitische Züge trägt.

Staatsverweigerer haben nicht selten eine ungute Nähe zu rechtsextremem Gedankengut, was oft auch für die unzähligen Anhänger etwa jener These gilt, die hinter einfachen Kondensstreifen von Flugzeugtriebwerken eine geheimnisvolle Verbreitung von Chemikalien in der Atmosphäre („Chemtrails“) vermuten. Die Sozial- und Rechtspsychologin Pia Lamberty forscht an der Universität Mainz an den psychologischen Ursachen und gesellschaftlichen Konsequenzen von Verschwörungstheorien und kommt zu dem Schluss, dass „die Tendenz, Verschwörungen zu wittern, eng verknüpft ist mit einem generalisierten Misstrauen gegenüber Institutionen und Gruppen, die als mächtig wahrgenommen werden (Politik, Wissenschaft, ,Schulmedizin‘)“. Zudem sind Anhänger solcher Theorien, so Lamberty, eher bereit, sich für einen politischen Wandel einzusetzen.

Psychosoziale Igelreaktion

Es entsteht also eine brisante Mischung aus dem Wunsch, sich in einer abgegrenzten alternativen Wirklichkeit mit Gleichgesinnten neu zu identifizieren und gleichzeitig das bestehende Gefüge sowie andersdenkende Menschen abzulehnen und nach gesellschaftlicher Veränderung zu streben. Eine Gemengelage, die zu Manipulation und Instrumentalisierung geradezu einlädt.

Wie auch der Umbau der politischen Landschaften in den westlichen Demokratien zeigt, hat das „Establishment“ viele Menschen verloren. Die Erklärungen und Modelle der Wissenschaft, die Berichterstattung der Medien und das politische Handeln sind für viele Menschen nicht mehr nachvollziehbar, begreifbar geworden. Da entstand eine immer größere Kluft zwischen dem, was berichtet wurde (die Sorgen „der anderen“), und dem, was sie alltäglich erlebten. Drängende Probleme – „ihre“ Probleme – wurden nicht erkannt, nicht benannt und auch nicht glaubwürdig bekämpft. Dieses Gefühl, nicht wahrgenommen zu werden, nicht mehr dazuzugehören, führt dann genau zu jenem Zustand der gesellschaftlichen Zersplitterung, den Isolde Charim mit „identitärem Präkariat“ beschrieben hat.

Der Nährboden für eine psychosoziale Igelreaktion: sich mit Wut im Bauch im Paralleluniversum einer alternativen Realität einrollen – mit spitzen, bösen Stacheln, die sich gegen die da draußen richten. Viele solche igeligen Scheinarten haben sich schon gebildet in unserer Gesellschaft – sie verunmöglichen Offenheit, Gemeinsamkeit und Solidarität. Ja – im Gegenteil: „Fake News!!!“ schleudert man sich entgegen – die Wirklichkeit und Identität des anderen erschütternd, verachtend, verlachend.

Vor einem analogen Hintergrund kommt Konrad Lorenz in „Das sogenannte Böse“ zu dem Schluss: „Ohne die Toleranz (. . .), ist es nur zu einfach für einen Menschen, die Personifikation des Bösen in dem zu sehen, was für seinen Nachbarn das Heiligste ist“.

E-Mails an:debatte@diepresse.com

DER AUTOR

Thomas Jakl (* 1965) ist Biologe und Erdwissenschaftler. Er arbeitete bis 1991 an der Uni Wien, wechselte dann ins Umweltministerium.

Inzwischen ist er in leitenden Funktionen im Bereich des Umweltschutzes in verschiedenen nationalen und internationalen Institutionen tätig. Unter anderem ist er Mitglied des Vorstandes des Forums Wissenschaft und Umwelt; er war Vorsitzender des Verwaltungsrats der EU-Chemikalienagentur.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.05.2019)

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