„Machtrausch, Schurkerei, Dummheit“

Das Jahr 1919 in Zeitungsschlagzeilen. Gerhard Jelineks Mini-Essays.

In der Mitte des ersten Friedensjahres – 1919 – erstellt der einstige k.u.k. Ministerpräsident Wladimir Beck den Kassasturz nach dem Ersten Weltkrieg. Der Hochbürokrat (sein Adelstitel wurde inzwischen gesetzlich kassiert) ist jetzt Präsident des Staatsrechnungshofes, und er beziffert die „gesamte Geld- und Obligationsgebarung“ mit 661.084.016 Kronen. Umgerechnet lächerliche 1,3 Milliarden Euro. Sparen ist also für die neue Republik Deutschösterreich angesagt, die von den Siegermächten noch keinen Friedensvertrag erhalten hat.

Der frühere „Presse“-Redakteur Gerhard Jelinek hat anhand von Dokumenten und Pressemeldungen schon mehrfach österreichische Zeitgeschichten dokumentiert. Wie für die Jahre 1914 und 1918 bringt er uns nun Not und Elend des Jahres 1919 nahe, er schildert Fußballmatches und Hungerstreiks, wachsenden Antisemitismus und das Erstarken der kleinen kommunistischen Sekte. Doch noch kurz zurück zu Wladimir Beck: Dieser verlangt in seinem Abschlussbericht über den erbärmlichen Staatshaushalt die sofortige Einsetzung einer „Verwaltungsreform-Kommission“. Eine Forderung, die wortwörtlich 100 Jahre überstanden hat.

Der „Friedens“-Vertrag

Zum tristen finanziellen Alltag gesellt sich die totale Hoffnungslosigkeit in Politik, Kunst und Gesellschaft, als im Juni 1919 die Bedingungen der Sieger für einen Friedensvertrag publik werden. Diese Demütigung des kleinen Österreichs nennt Thomas Mann „gottverlassen und hirnverbrannt“. Als Arthur Schnitzler die ersten Depeschen aus London und Amsterdam darüber in der Neuen Freien Presse liest, wundert er sich über gar nichts mehr: „Grausamkeit, Machtrausch, Schurkerei, Dummheit, das alles wiederholt sich in allen großen Epochen der Geschichte...“

In diesen Tagen vollziehen sich auch kleine menschliche Tragödien. Aus dem Exil kehrt der schweizerische Staatsbürger Leopold Wölfling nach Österreich zurück. Geboren war Wölfling als Erzherzog Leopold Ferdinand aus der toskanischen Linie der Habsburger. Sein Verzicht auf die Zugehörigkeit zum ehemaligen Herrscherhaus ermöglicht ihm nun eine bescheidene Existenz in Wien. Als Greißler etabliert er sich in Kaisermühlen, aber der Geschäftsgang ist schleppend.

Die Roten Garden scheitern

Am 15. Juni 1919 versuchen die kommunistischen Roten Garden, den Ungarn und Bayern nachzueifern. Eine rote Räterepublik ist das Ziel. Aufgehetzt von Agitatoren sammeln sich an diesem Sonntag etwa 5000 Menschen vor dem Landesgericht, um für verhaftete Genossen zu demonstrieren. Sie wollen durch den Votivpark zur Polizeidirektion ziehen. Bei der Hörlgasse Nr. 10 hat die Polizei Stellung bezogen. Gebrüll, erste Steine fliegen, die Exekutive schießt. Acht Tote, 80 Schwerverletzte sind das Resultat.

Später muss die Konstituierende Nationalversammlung schweren Herzens das Diktat der Siegermächte akzeptieren und den Staat nur „Österreich“ nennen. Bis auf Weiteres darf sich der neue Staat auch nicht als ein Teil des Deutschen Reiches bezeichnen. Friedrich Austerlitz, der brillante Chef der sozialistischen „Arbeiter-Zeitung“, gibt aber die Hoffnung nicht auf: „Niemals werden wir den Gedanken aufgeben, dass der Zusammenschluss mit der deutschen Nation sich vollziehen muss...“

Gerhard Jelinek:
„Neue Zeit – 1919.
Ein Jahr zwischen Hoffnung und Entsetzen“

Amalthea, 250 Seiten,
25 Euro

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.05.2019)

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