Am Papier

Vielleicht liegt das Blümchen aber auch gar nicht zufällig in diesem Buch. Vielleicht wollte jemand eine Botschaft schicken, eine Flaschenpost ohne Flasche, von Leser zu Leser.

Neulich habe ich ein Gänseblümchen gefunden, und zwar in einem Roman, den ich aus der Bücherei ausgeborgt hatte. Es lag zwischen den Seiten, zart und bleich und schön. Jemand muss es dort vergessen haben. Ich stelle mir vor, wie er das Blümlein am Wegesrand sah, ganz allein inmitten lauter Löwenzahn. Er beschloss, es zu pflücken und zwischen zwei Löschblättern zu pressen. Warum? Weil er jemanden kannte, der sich darüber freuen würde? Oder weil er gerade eine wunderbare Nachricht erhalten hatte? Ein Kind war geboren, eine Liebe erwidert worden, eine Prüfung geschafft, daran wollte er sich erinnern, und weil gerade kein Vergissmeinnicht zur Hand war . . .

Vielleicht liegt das Gänseblümchen aber auch gar nicht zufällig in diesem Buch. Vielleicht wollte jemand eine Botschaft schicken, eine Flaschenpost ohne Flasche, von Leser zu Leser. Wie auch immer, ich steckte das Blümlein vorsichtig wieder zurück und dachte nicht mehr daran, es waren schließlich nicht meine Erinnerungen, sondern die eines anderen. Als ich den Roman das nächste Mal zur Hand nahm, fiel die Blume heraus und zerbrach. Ich warf sie in den Müll, mit mildem Bedauern.


Zugtickets, Rechnungen. Gänseblümchen findet man selten in Büchern. Normalerweise sind es prosaischere Dinge. Zugtickets nach Tulln oder Eintrittskarten für ein Straßenbahnmuseum zum Beispiel, Rechnungen, die als Lesezeichen dienten, oder Einkaufszettel, die niemand mehr braucht: zwei Wurstsemmeln, ein Kornspitz mit Gouda, ein Mohnflesserl mit Salami und Gurkerl, eine Paprika. Oder auch: Sonnencreme, Mückenschutz, wasserfeste Pflaster. Ob da wer auf Reisen ging?

Einmal fand ich einen Zettel, der dreimal gefaltet und mit klitzekleinen Zahlen und Buchstaben übersät war. Von Bilanzierung war da die Rede, von Lagerabbau, Schwund, Maschinen und den Kosten für Datenverarbeitungsprogramme. Penibel wurde dividiert und multipliziert und zusammengerechnet. Das Ergebnis: „Verkaufserlös netto 1250!“ Ist das jetzt viel? Oder weniger als erwartet? Was soll da verkauft werden? Und warum fehlt vom Zettel ein Eck?

Der Verfasser muss in Eile gewesen sein – die Schrift ist zum Teil unleserlich, immer wieder wurde etwas hastig durchgestrichen oder ergänzt. Ihm ging es nicht um Schönheit. Ihm ging es um Geld. Und doch findet sich auf diesem Zettel, rechts oben, ein Hinweis darauf, dass für ihn der Verkaufserlös nicht alles war: ein hingekritzeltes Männchen mit Patschehänden, abstehenden Ohren und einem Wuschelkopf. Es lacht!

Den Zettel habe ich übrigens noch. Falls ihn jemand vermissen sollte.

bettina.eibel-steiner@diepresse.com

diepresse.com/amherd

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.09.2019)

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