Was ist Glück?

Willkür der Götter, Zufall, bloße Einbildung? KleinesGlück und großes Glück: eine kurze Geschichte.

Was ist Glück? Die Alten aus grauer Vorzeit, Ägypter, Babylonier, Hellenen, Römer, kannten die Antwort: Glück ist die Huld der Himmlischen. Es zeigt sich, wenn die Götter dem vom Glück Begünstigten gewogen sind. Das ganze Dasein ist ja der Willkür der Götter ausgeliefert: Grollt Zeus, hört man den Donner. Schlägt Hephaistos auf den Amboss, bebt die Erde. Zückt Ares die Waffen, herrscht Krieg. Die Götter sind unstet. Das Glück entspringt himmlischer Laune.

Würde man behaupten, die Menschen hätten damals gemeint, es sei Zufall, ob ei- nem das Glück gewogen ist oder nicht, verstünde man die damalige Zeit nicht. Dass Glück eine Sache des Zufalls sei, war den Alten fremd. Zwar haben schon in archaischen Zeiten die Menschen mit Würfeln gespielt. Funde aus prähistorischer Zeit belegen es: Aus Tierknochen wurden Würfel so geschnitten und geformt, wie wir sie heute kennen. Aber wenn damals eine Sechs geworfen wurde, deutete man es als Beweis dafür, dass die Götter günstig gestimmt waren. Denn nichts ereignet sich zufällig. Alles ist göttlicher Willkür anheimgestellt.

Eine Ahnung dieser Sicht vermittelt die Bibel: In den Sprüchen Salomons heißt es: Der Mensch wirft das Los, aber es fällt, wie Gott will. Und als nach der Himmelfahrt ihres Herrn die Jünger Jesu zusammenkamen und bemerkten, dass sie nicht mehr die alte Schar von zwölf Männern waren, galt es, zu den elf einen neuen Zwölften zu gesellen. Zwei Kandidaten standen zur Wahl. In der prachtvollen Übersetzung Luthers lesen wir: „Und sie stellten zwei, Joseph, genannt Barsabas, mit dem Zunahmen Just, und Matthias, beteten und sprachen: Herr, aller Herzen Kündiger, zeige an, welchen du erwählt hast unter diesen zweien, dass einer empfange diesen Dienst und Apostelamt, davon Judas abgewichen ist, dass er hinginge an seinen Ort. Und sie warfen das Los über sie, und das Los fiel auf Matthias; und er ward zugeordnet zu den elf Aposteln.“ Wie man diesen Worten entnimmt, meinten die elf, Gott selbst soll entscheiden. Daher warfen sie, des Spruchs Salomons gedenkend, das Los. Nicht ohne vorher gebetet zu haben, es möge gottgefällig fallen. Denn den Zufall gab es damals noch nicht.

Die Idee, dass der blinde Zufall unser Geschick und damit auch unser Glück bestimmt, ergab sich aus einer Art Winkelzug. Wie dieser zustande kam, ist eine spannende Geschichte, die es wert ist, erzählt zu werden: Als die Mönche des Mittelalters – eigentlich nur zu dem Zweck, zur rechten Zeit zu den gemeinsamen Gebeten gerufen werden zu können – die kompliziert mit Zahnrädern bestückten Pendeluhren erfanden, ahnten sie nicht, dass sie damit die Entzauberung des Himmels einläuteten. Denn die Zeit, die vorher aus den rhythmischen Bewegungen der Sonne, des Mondes und der Sterne begriffen wurde, lässt sich mit dieser sinnreichen Erfindung in ein irdisches Räderwerk bannen. Es galt als wunderbare Errungenschaft, astronomische Uhren konstruieren zu können. Die berühmteste unter ihnen ist jene im Straßburger Münster: Sie zeigt nicht nur Stunde, Sonnenauf- und Son nenuntergang, sondern auch den Kalender- und den Wochentag an, sie verfolgt den Mond am Himmelszelt, die Positionen der Planeten. Das langsamste unter den unzähligen Zahnrädern dieser Uhr ist so konstruiert, dass es sich in 25.800Jahren einmal um die eigene Achse gedreht haben wird...

Wer solche Uhren bestaunt, versteht, dass man meinte, das Weltall selbst sei eine gigantische Uhr, konstruiert vom Schöpfer zu Beginn der Zeit. Tatsächlich lassen sich die kosmischen Ereignisse, vor allem die spektakulären Mond- und Sonnenfinsternisse, präzise vorausberechnen. Sie ereignen sich al-so nicht wegen einesWillküraktes der Götter oder weil ein Himmelsdrache Mond oder Sonne mit seinem Mauloder seinem Schwanzvertilgt, sie ereignen sich nach einem nüchternen mathematischen Gesetz. Schon die babylonischen Priester kannten es, hielten es aber geheim. Denn es verlieh ihnen in der Meinung des Volkes die Macht, über den Himmelsdrachen zu gebieten.

Die Vorstellung, der Himmel funktioniere wie ein Uhrwerk, stelle ein seelenloses System dar, wurde nach Herausgabe der „Naturphilosophie“ von Isaac Newton zum Allgemeingut des Wissens. Newton lehrte: Die Wandelsterne bewegen sich nicht deshalb, weil Gottes Engel sie mit ihren Flügeln am Himmelszelt vorantreiben, sondern weil ein mathematisches Gesetz die Anziehungskraft zwischen Massen beschreibt. Dieses Gesetz verlangt, dass ein von einer Sonne in Bann gehaltener Planet sich auf einer elliptischen Bahn bewegt. Das Himmelsgeschehen: Es ist ein riesiges Uhrwerk.

Allerdings war Newton beunruhigt, weil bei zwei Umdrehungen des Saturn der ihm benachbarte Jupiter fünf Umdrehungen vollzieht. Denn Saturn und Jupiter sind zwei sehr große, massereiche Planeten, und wennsie immer wieder an der gleichen Stelle im Himmel einander sehr nahe kommen, entsteht eine Sogwirkung auf die anderen, kleineren Planeten von der Sonne weg zu dieser Stelle. Newton befürchtete, dass dadurch das Sonnensystem aus dem Gleichgewicht geraten könne. Die Stabilität des Systems werde nur gewahrt, wenn von Zeit zu Zeit der Allmächtige eigenhändig eingreift und für Ordnung sorgt. Was Gottfried Wilhelm Leibniz zur hämischen Bemerkung veranlasste, dass nach Newtons Ansicht Gott wohl ein schlechter Uhrmacher sei. Dieses ironische Aperçu belegt erneut, wie sehr man damals dem Gedanken anhing, der Himmel funktioniere wie eine Uhr.

Erst die Messungen und Rechnungen des zur Zeit Napoleons wirkenden Mathematikers Pierre Simon Laplace klärten auf, warum es nicht zu der von Newton befürchteten Katastrophe kommt: Es stimmt nämlich nicht, dass haargenau bei zwei Umdrehungen des Saturn Jupiter fünf Umdrehungen vollzieht. Die beiden Riesenplaneten kommen, über die Jahrhunderte betrachtet, an den verschiedensten Orten des Himmels einander nahe. Die gefährliche Sogwirkung von der Sonne weg auf eine einzige Stelle des Himmels besteht folglich nicht. Als Laplace Napoleon dies darlegte, fragte der Kaiser, wo denn nun der Schöpfer wirke. „Sire, diese Hypothese benötige ich nicht mehr“, gab Laplace zur Antwort. Seine Himmelsmechanik komme ohne Gott zurecht. Und Lapla-ce war überzeugt, dass die mathematischen Gesetze, die den Himmel regieren, auch auf Erden gelten. Alles funktioniere wie ein Uhrwerk, ließe sich in seinem zukünftigen Verhalten exaktvorausberechnen. Nichtssei zufällig, alles determiniert. Man brauchebloß von jedem Atom zu einem bestimmten Zeitpunkt zu wissen, wo es sich befände, wie schnell und in welche Richtung es sich gerade bewege. Dann erlaubten die Gleichungen Newtons, wenn ein Dämon, so Laplace – heute würden wir sagen: ein Computer –, auf sie losgelassen würde, die Berechnung aller künftigen Lagen und Bewegungen der Atome. Dem Dämon gelänge das Kalkül des Weltgeschehens.

Hatten die Alten den Zufall nicht gekannt, weil alles der Willkür der Götter unterworfen war, kennt auch Laplace keinen Zufall. Denn alles Geschehen ist seit Ewigkeiten vorherbestimmt. Doch diesmal nicht vom göttlichen Willen, sondern aufgrund eines mathematischen Gesetzes. Was aber ist das Glück? Im Weltbild des Laplace ein sinnloser Begriff, eine bloße Einbildung. Wenn es nur Atome und das über sie bestimmende mathematische Gesetz gibt, lösen sich Begriffe wie Freiheit oder Glück in buchstäblich Nichts auf.

Allerdings: Die Hypothese des Laplace, das gesamte Weltgeschehen sei nichts anderes als ein exorbitantes Uhrwerk, ist mit mathematischer Sicherheit abgrundtief falsch. Anstatt dies zu beweisen, sei erwähnt: Selbst beim Sonnensystem, bei dem Laplace überzeugt war, ein stichhaltiges Modell seiner Hypothese der totalen Determiniertheit vor Augen zu haben, stimmt die Annahme, es funktioniere genauso wie das Räderwerk einer Uhr, glattweg nicht. Denn Newtons Gleichungen kann selbst der Dämon des Laplace bloß in sehr einfachen Spezialfällen in dem Sinn lösen, wie es sich Laplace wünschte. Bei einem komplexen System mit vielen aufeinander wirkenden Himmelskörpern ist man meilenweit davon entfernt, den Newtonschen Gleichungen die Lösungen so abzuringen, dass man für Jahrmilliarden die Entwicklung des Systems berechnen könnte. Aufgrund bahnbrechender Erkenntnisse des Mathematikers Henri Poincaré sind wir heute in der Lage, mit mathematischer Gewissheit zu belegen, dass es prinzipiell unmöglich ist, für lange Zeiten auch nur eine ungefähre Prognose über die Zukunft unseres Sonnensystems zu treffen. Die Erde könnte sich vielleicht noch immer so wie heute um die Sonne drehen, sie könnte aber auch durch den Zusammensturz anderer Planeten aus ihrer Bahn geworfen und in die Tiefen des Alls geschleudert werden. Wir wissen, dass weder der Laplacesche Dämon noch wir dies mit Rechnungen werden in Erfahrung bringen können.

Wie wir auch wissen, dass wir nichts vom Wetter wissen können, das in einem Monat herrschen wird. Denn auch dies ist eine der Folgerungen aus den Erkenntnissen Poincarés: Die Gleichungen, welche das Wetter steuern, sind so komplex, dass Langzeitprognosen über ein Dutzend Tage hinaus prinzipiell völlig aussichtslos sind. Auch das Wetter ist mit Sicherheit kein Uhrwerk.

Und am allerwenigsten ist es das Lebendige, das sich vom träge Leblosen durch unstete Spontaneität auszeichnet. René Descar- tes war als Vorläufer des Laplace noch der Überzeugung, Tiere funktionierten wie Maschinen. Kreischt eine Katze, weil man sie am Schwanz zieht, ist dies in den Augen von Descartes das Gleiche, wie wenn ein Wecker läutet. Und Julien Offray deLaMettrie vermutete sogar, ganz im Sinne von Laplace, auch der Mensch funktioniere wie eine Maschine. Doch heute wissen wir mit der gleichen Sicherheit, mit der wir wissen, dass der Lehrsatz des Pythagoras stimmt: Die Hypothesen Descartes', de La Mettries, Laplaces sind falsch. Nur die auf einfache mathematische Modelle reduzierten und abstrahierten Systeme der Wirklichkeit sind determiniert. Sobald es ein wenig komplizierter wird, zerbricht der Determinismus. Niemand wird die Zukunft berechnen können.

Diese Erkenntnis ist es, die dem Zufall Bahn bricht. Und dem Glück wieder Platz einräumt. Denn Glück, so meinen viele, besteht darin, dass zufällig ein Ereignis, auf das man hofft, eintritt.

Doch dieses Glück, von dem die Vielen heute sprechen, ist ein gänzlich anderes als jenes der frühen Hochkulturen: Denn inzwischen ist der Himmel von den Göttern geleert. Mögen sie damals so launisch gewesensein, wie man heute den Zufall blind nennt: Den Göttern konnte man Tempel und Statuen errichten, Opfer darbringen und sie mit Gebeten umzustimmen versuchen. Aber keinAberglaube reicht so weit, dass man dem Zufall huldigte. Man errichtet für ihn keinen Altar, er wird nicht wie ein Idol verehrt, man erzählt sich über ihn keine Legenden. – Darum besteht Glück angesichts des seelenlosen Alls bestenfalls aus einzelnen kurzen freudigen Momenten im Laufe einer endlichen, hinfälligen Existenz, kleinen Inseln vergleichbar, verstreut in der Ödnis eines unendlichen Ozeans trostloser Beliebigkeit. Albert Camus kannte eben nur dieses Glück, das er das „kleine Glück“ genannt hat. Zwar sei es erstrebenswert, denn es sei das einzige, wonach wir suchten. Doch im Grunde sei das Trachten nach den wenigen glücklich zu nennenden Augenblicken angesichts der Leere der Welt nichts anderes als eine heroische, aber aussichtslose Revolte gegen das Absurde. Meursault, der Held in Camus' Erzählung „L'Étranger“, steht dafür ein. Er erlebt die Welt als Abfolge unzusammenhängender zufälliger Ereignisse: den Tod der Mutter genauso wie die kurze Liebesaffäre danach und den grotesken Mord, den er ohne Motiv begeht. Meursault ist ein Fremder, weil sein gleichgültiges und teilnahmsloses Verhalten verstört: Der Untersuchungsrichter vor dem Mordprozess kann nicht verstehen, dass Meursault buchstäblich an nichts glaubt, dass Glück in Meursaults Augen einfach nur bedeutet, den Alltag routiniert erledigen zu können. Die ihm eigene Apathie deutet Meursault als konsequenten Lebensansatz angesichts der Gleichgültigkeit der Welt.

Doch ist damit das letzte Wort gesprochen? Schon Jahrhunderte vor Camus hatte sein Landsmann Blaise Pascal die gleiche so verstörend klingende existenzielle Befindlichkeit angesprochen, jedoch nicht die gleiche Konsequenz wie Camus gezogen. Vielleicht lag das daran, dass Pascal im Grunde seines Herzens Mathematiker war. Man sagt dieser Gilde ja nach, dass sie imstande sei, die Welt exakt zu beschreiben. Doch dies stimmt nur, wenn man sich darüber einig ist, was man unter der „Welt“ versteht: Wennes die Welt sein sollte, von der wir annehmen, sie sei unserem Dasein vorgelagert, sie umhülle unser Dasein und sie bestünde auchnach unserem Dasein weiter, gleichsam die Bühne, auf der wir unseren Auftritt absolvieren, dann ist dies sicher falsch. Denn diese Welt, wir haben es oben erläutert, ist unberechenbar, ihr kann die Mathematik nichts anhaben. Wenn es hingegen die Welt ist, die wir wahrnehmen, dann mag dies stimmen. Denn Wahrnehmung ist etwas ganz anderes, als bloß Sinneseindrücke zu empfangen. Wahrnehmung besteht darin, aus dem Chaos der auf unsere Sinne einstürmenden Daten einen Kosmos zu formen. Indem man fast alle Daten verwirft und nur wenige übrig gebliebene in ein Schema ordnet. Erst mit dem Prozess der Wahrnehmung hebt Existenz an. – Am Beispiel des Sternenhimmels lässt sich am klarsten verdeutlichen, was damit gemeint ist: Die Sterne sind am Himmelsgewölbe a priori, so darf man annehmen, zufällig, chaotisch verstreut. Und dennoch haben seit Bestehen menschlicher Kultur alle Bewunderer des Sternenzeltes bestimmte Gruppen von Sternen zu Sternbildern zusammengefasst. Nur so nehmen wir den gestirnten Himmel wahr. Wir können gar nicht anders.

Darum war es nicht die Welt selbst, sondern die Wahrnehmung der Welt, die Newton, Laplace und Poincaré veranlasste, mathematische Modelle des Weltgeschehens zu entwickeln. Küstenbewohner erfahren den steten Wandel von Ebbe und Flut, das Pendel der Uhr schwingt hin und her, das Herz des Menschen schlägt – all dies wird von der Mathematik abstrahiert, indem sie das Modell der harmonischen Schwingung entwirft. Diese gründetauf einem gedanklichen Entwurf, dem sich die sinnlich erfahrene Wirklichkeit annähert, mitdem sie aber nie völligverschmilzt: Die Gezeiten gehorchen nur ungefähr dem Gesetz des harmonischen Schwingens, auch das Pendel der Uhr wird bereits durch die Reibung an der Luft davon abgehalten, dem präzisen Gesetz der Sinusschwingung zu folgen, und würde das Herz des Menschen im exakten mathematischen Takt schlagen, bedeutete dies höchste Lebensgefahr. Die Differenz zwischen dem mathematischen Entwurf der wahrgenommenen Welt und der unberechenbaren Realität bleibt unüberwindbar.

Dennoch existieren Refugien, die es uns erlauben, im Chaos der Realität zumindest vorläufig Sicherheit zu erlangen: Ursachen für bestehende Sachverhalte zu erahnen und leidlich verlässliche Prognosen zu erstellen. Die Struktur des Sonnensystems als Ganzes ist völlig undurchschaubar, aber wir sind davon überzeugt, dass noch für viele Generationen der Rhythmus der Sonnenauf- und Sonnenuntergänge wird bestehen bleiben. Das Wetter bleibt auf lange Sicht unkalkulierbar, doch Prognosen für die nächsten Tage werden mit wachsender Leistung der Computer immer solider. Und seit der Zeit des Archimedes sorgen Ingenieure dafür, dass die Refugien von Sicherheit und Verlässlichkeit in unserem Dasein größer werden. Eine Brücke darf einfach nicht „zufällig“ einstürzen. Einst hatten die Brückenbauer mit dem Einsatz der eigenen Existenz für die Verlässlichkeit ihrer Rechnungen garantiert: Nach Fertigstellung des Werkes stellten sie sich darunter und ließen die schwersten der erlaubten Lasten über ihre Brücke rollen. Sie waren davon überzeugt: In der von ihnen mit Zirkel und Lineal abgesteckten Welt kann man sich auf die Mathematik verlassen.

Wir wollen aber nicht allein bei Sternen, beim Wetter und bei Brücken Vertrauen schöpfen, wir wollen es auch in anderen Dimensionen des Daseins. In der Ökonomie, in der Politik, im sozialen Gefüge. Nur Naive wünschen sich totale Sicherheit. Wir aber wissen, dass man auch dort, wie in den Gebieten der Naturwissenschaft, nur von sicheren Refugien träumen darf. Ökonomie, Geschichte, Gesellschaft sind im Großen noch unberechenbarer als komplexe mechanische, chemische oder biologische Systeme. Doch in überschaubaren Teilbereichen darf man Voraussagen treffen, weil man über sie Bescheid weiß, weil sie sich durch rationale Modelle näherungsweise erfassen lassen. Deshalb darf man Versprechen geben, Vertrauen einfordern, Hoffnungen wecken. Undgenau diese kleinen Nischen ermöglichen, im Gegensatz zu Camus'kleinem Glück, das große Glück. – Worin besteht dieses? Nicht darin, bei einem Geschäft den Erfolg zu erzielen, bei einer Wahl denSieg zu ergattern, bei einer Versammlung die Ehrbezeugung der Anwesenden zu erfahren. All dies fällt noch unter die Rubrik des kleinen Glücks. Das große Glück hingegen bereiten wir vor, indem wir, so gut es eben geht – und je näher man an den Rand des Refugiums der Sicherheit kommt, umso spannender und gewichtiger erweist sich einderartiges Unternehmen –, unserem Partner, der auf uns zählt, einen Befund dessen vorlegen, was bisher geschah, und einen Ratschlag erteilen, welche Entscheidungen nach bestem Wissen und Gewissen zu treffen seien. Und das große Glück erfahren wir, wenn wir erleben, dass das Versprechen, welches wir gegeben haben, gehalten wurde, dass dasVertrauen, welches uns entgegengebracht wurde, gerechtfertigt war, dass die Hoffnungen, die in uns gesetzt wurden, Erfüllung fanden. Kurz: Das große Glück erleben wir dann, wenn wir einer Person, die uns vertraut, das kleine Glück bereiten. Und allein, weil wir die Welt, die wir wahrnehmen, zumindest in groben Zügen verstehen können, dürfen wir Versprechen geben, Vertrauen beanspruchen, Hoffnungen setzen. In einer chaotisch allein vom blinden Zufall regierten Welt wäre es verantwortungslos.

Nicht der Säugling, der lacht, erlebt das große Glück, sondern die Mutter, die sich freut, dass sie ihr Kind zum Lachen brachte. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.06.2010)

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