Ein Wrack und seine Teile

Little Dog, vietnamesisches Einwandererkind in den USA, schreibt seiner Mutter Rose einen langen Brief, den die Analphabetin nie lesen wird. Ocean Vuongs Debütroman „Auf Erden sind wir kurz grandios“: ein komplexes, verstörendes Buch.

Eine jede Buchsaison braucht ihre spektakulären Spitzentitel, verlangt nach Autorinnen oder Autoren, die aus dem Nichts zu kommen scheinen und mit einem Mal als Sterne am Literaturhimmel aufgehen. Ocean Vuong, 1988 in Saigon geboren und zwei Jahre später in die USA gekommen, ist eine solche Person, deren Debütroman „Auf Erden sind wir kurz grandios“ mit reichlich Vorschusslorbeeren – unter anderem von Michael Cunningham, Édouard Louis und Saša Stanišić – bedacht wurde. Bereits Vuongs 2016 erschienener Gedichtband „Night Sky with Exit Wounds“ fand viel Anerkennung, und so durfte man erwarten, dass dieser Autor in seinem ersten, offenkundig autobiografisch geprägten Roman der Versuchung erliegen würde, zuerst die Geschichte seiner geglückten Migration und seines staunenswerten Bildungsaufstiegs zu präsentieren.

Davon jedoch handelt sein Roman nur am Rande. „Erinnerung ist eine Entscheidung“, heißt es an einer Stelle, und welchen Entschluss der Erzähler Ocean Vuong gefasst hat, offenbart sich auf den ersten Seiten. Ein Mann, Ende zwanzig und wie sein Verfasser in Vietnam geboren, schreibt einen langen Brief an seine Mutter Rose, die Analphabetin ist und folglich nie lesen wird, was der Sohn ihr mitteilen möchte. Sie hat sich, nachdem die Familie Saigon verlassen hatte und in Connecticut sesshaft wurde, hochgearbeitet, betreibt inzwischen ein Nagelstudio und ist doch weit entfernt von all dem, was die US-amerikanische Mittelklasse an Statussymbolen vor sich herträgt. Ihrem Sohn, Little Dog genannt, den sie jahrelang mit Schlägen traktierte, hat sie mit auf den steinigen Weg gegeben, sich niemals unterkriegen zu lassen und seine Außenseiterrolle als Einwandererkind, das anfangs kein Wort Englisch spricht, nicht klaglos hinzunehmen.

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