Zahnlücken verringern Jobchancen

Pilotprojekt in Wien rund um das Thema Mindestsicherung: „Ein Leben mit Stigmatisierung ist nicht lustig.“

Wien. Er lebte in Indien, fünfeinhalb Jahre lang, dann zog er weiter nach Nepal, wo er eine Schneiderei führte und einen Bauernhof in der Nähe der Hauptstadt Kathmandu. Es war eine Flucht gewesen, möglichst weit weg von Wien wollte er, weit weg vom Leben, das es nicht gut gemeint hatte mit ihm.

Von seiner drogenabhängigen Frau, der Mutter seines Sohnes, war er geschieden worden. Das gemeinsame Haus musste er verlassen; er schlief eine Zeit lang in Parks, weil er sonst nirgendwo hin konnte. Die Achtzigerjahre hatten gerade begonnen, er hätte damals die Lehrabschlussprüfung zum Maurer machen sollen, doch dazu kam es nie. Wie das Leben so spielt.

Wolfgang Lechnitz, 56 Jahre alt, vierfacher Vater, vorbestraft wegen Verletzung der Unterhaltspflicht, sitzt in einem Beratungszentrum in Wien-Floridsdorf, es ist Juni und ziemlich heiß im zweiten Stock. Er trägt abgeschnittene Jeans und Sandalen, seinem rötlichen Haar scheint langsam die Farbe auszugehen. Wer Lechnitz nach seiner Lebensgeschichte fragt, wird eine Gegenfrage zur Antwort bekommen: „Wie viel Zeit haben Sie?“

Der Mann hat so ziemlich alles gemacht: Hilfsarbeiter war er und Bauleiter, erfolgloser Unternehmer, Reisender und Obdachloser. Das anstrengende Leben hat Spuren hinterlassen, an der Schulter, an den Hüften. Doch jetzt scheint er sich wieder halbwegs gefunden zu haben: Er hat eine Wohnung in Floridsdorf und ist Teilnehmer eines Pilotprojekts zur Mindestsicherung, die ab September die Sozialhilfe der Länder ersetzen soll.

Neu an dieser Mindestsicherung wird unter anderem sein, dass die Bedingungen für die monatlich 744 Euro verschärft werden. Wer nicht arbeiten will, bekommt kein Geld. Dem Arbeitsmarktservice (AMS) soll dabei eine Schlüsselrolle zukommen: die des Vermittlers zwischen Sozialamt und Arbeitsmarkt.

Alkoholismus und Traumata

Im vergangenen September wurde deshalb ein Testlauf gestartet, das AMS Wien beauftragte das Unternehmen „Context“ mit einem Projekt, das sich „Step2Job“ nennt: „Schritt für Schritt – zur Arbeit.“ Ursprünglich war es auf den 21.Bezirk beschränkt, im Jänner aber wurde es auf die Donaustadt erweitert. Ziel ist es, möglichst viele Sozialhilfeempfänger wieder in Beschäftigung zu bringen. Dafür stehen bis Juni 2011 nun 1,9 Millionen Euro zur Verfügung: Eine Million kommt vom AMS Wien, der Rest vom Europäischen Sozialfonds ESF.

Die Klienten sind entweder Langzeitarbeitslose oder schwer Vermittelbare, zwischen 21 und 64 Jahre alt, 60 Prozent haben einen migrantischen Hintergrund. „Context“ schwört auf Einzelfallbetreuung, es geht vor allem um Vertrauen. Das Personal setzt sich aus Sozialarbeitern, Psychotherapeuten und Pädagogen zusammen, es gibt auch einen Schuldenberater und zwei Sportlehrer. „Wir bereiten die Leute auf die Arbeitsaufnahme vor, begleiten sie zu Vorstellungsgesprächen und in den Arbeitsprozess“, sagt Projektleiter Oliver Holub.

Die Probleme, die sein Team zu lösen hat, sind vielschichtig wie die Klienten: alleinerziehende Mütter, die keine Betreuungsplätze für ihre Kinder finden und deshalb nicht arbeiten können. Körperliche und psychische Beeinträchtigungen. Alkoholismus und Menschen in Substitution. Traumatisierte Flüchtlinge. Muslimische Frauen, die zuerst Deutsch lernen müssen, bevor sie ein Bewerbungsschreiben verfassen können. Oder Zahnlücken, die auch die Jobchancen verringern.

Das Konzept scheint zu greifen. Von 730 Personen, die bis dato ins Programm übernommen wurden, haben rund 100 wieder Arbeit gefunden; im Reinigungsbereich, im Lager oder in der Gastronomie zumeist. Es gibt aber auch die Geschichte vom Pakistani, der 13 Jahre lang Zeitungen verkaufte auf den Straßen Wiens und dann, nach einem Kurs, in ein Büro wechselte. Oder die vom österreichischen Raumfahrtexperten, der im Ausland arbeitete und nach der Heimkehr zu wenige Beitragszeiten für das Arbeitslosengeld beisammen hatte. Heute ist er wieder beschäftigt: beim ESA-Raumfahrtzentrum in den Niederlanden nämlich.

Bis zu 25 Prozent Ausfallquote

Doch nicht alle, die vom Sozialamt hierher verwiesen werden, tauchen auch auf. Auf 20 bis 25 Prozent schätzt Holub die Ausfallquote. Warum sie das Sozialhilfegeld so leichtfertig aufs Spiel setzen, bleibt ihr Geheimnis. Trauen sie sich nicht? Oder wollen sie nur nicht?

Holub jedenfalls schließt aus, dass die Mindestsicherung eine Aufforderung zum Nichtstun sein werde: „Glauben sie mir, kaum jemand wählt so eine Situation freiwillig. Das Leben ist nicht lustig mit so wenig Geld und der damit verbundenen Stigmatisierung.“

Die Frage ist auch, ob das AMS ein Konzept wie „Step2Job“ bundesweit umsetzen kann. Ist Einzelfallbetreuung in dieser Dimension denn überhaupt leistbar? „Das müssen andere beantworten“, sagt Holub. „Ich kann nur empfehlen, zumindest ansatzweise das umzusetzen, was hier bei uns passiert.“

Wolfgang Lechnitz, der Exobdachlose, sitzt immer noch im zweiten Stock, er gewährt nun Einblicke in seine Finanzen. Miete und Heizung würden ihm bezahlt, 440 Euro blieben von der Sozialhilfe übrig. Damit müsse er auch den Strom bezahlen. „Ohne die Unterstützung meiner Freunde würde ich es nicht schaffen“, gesteht er.

Unlängst hat er wieder eine Absage bekommen, diesmal von einer Recycling-Firma. „Ich würde jeden Job annehmen, aber mit 56 und einem schwächelnden Körper ist das nicht mehr so einfach.“ Doch Aufgeben ist seine Sache nicht. Neuerdings besucht Lechnitz einen Bulgarisch-Kurs. Eine Bekannte, die an der bulgarischen Goldküste ein Reisebüro besitze, hätte ihm einen Job in Aussicht gestellt, wenn er die Landessprache erlerne, erzählt er. Wie das Leben so spielt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14. Juni 2010)

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