Wissenschaft

So viel Geist steckt in einem einzelligen Wimpertierchen

Symbolbild Wimperntierchen - Rotes Trompetentierchen.
Symbolbild Wimperntierchen - Rotes Trompetentierchen.(c) imago/blickwinkel (imago stock&people)
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Es agiert nach Entscheidungsbäumen – ganz ohne neuronales System.

Im Jahr 1906 entdeckte der Biologe Herbert Spencer Jennings bei Experimenten mit einer Art von Wimpertierchen ein unerwartet komplexes Verhalten. Scheinbar konnte der im Wasser lebende, trompetenförmige Einzeller Entscheidungen treffen und nach schlechten Erfahrungen ändern – wozu sonst nur vielzellige Organismen mit Zentralnervensystem in der Lage sind. Das passte (und passt) nicht in ein Weltbild, das Leben auf physikalische Chemie reduziert und in dem jede komplexe Leistung eine entsprechend komplexe molekulare Basis erfordert. Jennings Nachfolger bauten sein Experiment schlampig nach (mit einer nur ähnlichen Art), schlugen fehl und erklärten ihn erleichtert für widerlegt.

Nun ist der Ketzer rehabilitiert (Cell Press, 5.12). Ein Team um Joseph Dexter hat sein Experiment in Harvard original mit Stentor roeseli wiederholt. Und mit Geduld: Als man die an Algenresten festsitzenden Tierchen per Injektionsnadel wie Jennings mit dispergierten Farbpulver beschoss, reagierten diese kaum. Erst bei Styroporpartikeln kam Bewegung hinein: Die Einzeller beugten sich zur Seite, schlugen mit ihren Wimpern, zogen sich zusammen oder schwammen weg. Das allein ist nicht erstaunlich: Es zeichnet Lebewesen aus, dass sie auf einen Reiz von außen reagieren. Aber Jennings hatte eine Hierarchie beobachtet, vom Beugen als erste Reaktion bis zum Wegschwimmen als letzten Ausweg. Diese Abfolge fand man nun wieder, nicht im Einzelfall, aber im statistischen Mittel.

Mehr als einfaches Lernen

Das können sich auch Forscher von heute nur als sequenzielle Entscheidungsfindung erklären. Sie ist ungleich komplexer als das einfache Lernen, das man von Einzellern kennt, wie Gewöhnung an einen Reiz. Oder auch Konditionierung – der Pawlow'sche Hund. Neu entdeckt: Nach dem ersten Zusammenziehen, das nichts bringt, bleibt die Verteilung zwischen Kontrahieren und Wegschwimmen für weitere Versuche exakt bei 50:50– wie wenn ein rationales Wesen, das keine Präferenz zwischen zwei Alternativen hat, eine Münze wirft. Eine zweite kognitive Leistung, die Rätsel aufgibt. Schon steht der längst überholt geglaubte „Vitalismus“ wieder im Raum – die Lehre von einer „Lebenskraft“, nun auf molekularer Ebene. Ein Rückschritt, ein Fortschritt? Die Zukunft wird es weisen. (gau)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.12.2019)

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