Gastbeitrag

Die Sorgen der Staatenlosen der EU

Menschen aus Bulgarien, Serbien oder Rumänien zieht es jetzt aus dem Quarantänelager EU „nach Hause“.

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Werfen wir einen Blick auf zwei Landkarten, zuerst eine geo-physische, dann eine geo-politische, so wird diese Beobachtung wohl zur Folge haben, dass wir von der politischen Landkarte einen eher unnatürlichen Eindruck bekommen. Auf der geo-physischen Karte bleiben die Grenzen natürlich, bestehend aus Flüssen, Bergen, Meer oder Wüste. In der Geschichte wurden Grenzen immer schon durch die dominierenden politischen Kräfte legitimiert, um die Vermehrung der Macht voranzutreiben, sowie wirtschaftliche wie menschliche Ressourcen zu bewahren. Innerhalb dieser Grenzen haben sich Millionen von Menschen „in Quarantäne begeben“, denen der natürliche Charakter der Landkarte sowie der natürliche Fluss der Ressourcen und implizit auch der Menschen, einerlei sind. Migration ist ein natürliches Phänomen, Grenzen allerdings keinesfalls.

Aus Angst vor dem Virus müssen wir uns jetzt in die Beton-Grenzen unserer Häuser zurückziehen. Wir benutzen Desinfektionsmittel, um den Viren eine Grenze zu setzen. Wir halten in der Öffentlichkeit eine virtuelle räumliche Grenze ein, wenn wir Gehwege benutzen oder Geschäfte betreten. Wir erlegen uns eine Grenze auf, die Distanz zwischen uns und unseren alten, kranken Eltern schafft. Wir akzeptieren die Sicherheitsgrenze der Medien, die unsere Antwortmöglichkeiten und unsere Fähigkeit zu reagieren stark einschränkt und uns auf diese Weise passiver, distanzierter und gleichgültiger werden lässt. Merkwürdigerweise machen uns die Angst und die Grenzen verletzlicher, weil es uns nicht mehr möglich ist, uns auf unsere direkte, natürliche Erfahrung und unsere Empathiefähigkeit zu verlassen. Grenzen sind das Resultat einer Politik, der es um Macht geht. Kurzfristig schützen sie vielleicht, langfristig aber entfremden sie. Es ist, als würden wir plötzlich mitten im Nirgendwo ausgesetzt, ohne Plan und ohne GPS, nur mit einem Kompass. Wir wären bestimmt verloren. Die größte Gefahr der Grenzen ist Entfremdung.

In Nickelsdorf haben am 17. März die ungarischen Behörden zur Eindämmung der Pandemie die Grenzen geschlossen. Niemand soll mehr nach Ungarn kommen. Auf der Autobahn in Österreich gab es einen kilometerlangen Stau, etwa 4000 Menschen warteten auf die Erlaubnis, Ungarn zu durchqueren, um nach Rumänien, Bulgarien oder Serbien – nach Hause – zu kommen. Viele von ihnen sind Wirtschaftsflüchtlinge, Saisonarbeiter, die aufgrund der Krise ihren Job verloren haben. Es sind Menschen, die vor der Pandemie fliehen, vor Armut und strengen Isolierungsregeln. Sie fliehen von dort, wo sie wirtschaftliche Sicherheit gesucht hatten, dorthin, wo sie emotionale Sicherheit finden – eine abstrakte Sicherheit der familiären Vertrautheit, während sich ganz Europa in Quarantäne befindet. Aus dem Quarantänelager, das die EU geworden ist, fliehen sie „nach Hause“.

Letztlich hat ihnen die ungarische Regierung, die zum Experten in Sachen Zäune und Mauern geworden ist, nach diplomatischen Verhandlungen mit Rumänien und Österreich, die Erlaubnis erteilt, zwischen 21 und 5 Uhr unter polizeilicher Eskorte das Land zu queren. Ein trauriges Fenster für die innereuropäische Migration.

Die Menschen kehren zurück, weil sie eine andere Art von Sicherheit suchen, dort wo sie Häuser und Familie haben, dort wo man ihre Sprache spricht. Viele verstehen gar nicht, was ein Virus ist, warum sie Distanz wahren und Sozialkontakte meiden sollen, was Quarantäne bedeutet und warum sie nicht einfach „nach Hause“ dürfen. Für viele sind Grenzen Abstraktion. Sie wissen nicht, dass sie auch bei der Einreise nach Rumänien noch Grenzen erwarten, an denen sie mit Misstrauen und Geringschätzung gemustert und sortiert werden. Als sie damals gingen, wurden sie gekennzeichnet, stigmatisiert als die Unbeliebten – und genauso kehren sie nun zurück.

Europäer ohne Grenzen

Viele Europäer verstehen Flüchtlinge nicht, weil sie nicht wissen, was soziale Entbehrung bedeutet; sie haben nicht ihre Wohnung verloren, sie waren nie zwischen zwei Welten gefangen. Die Osteuropäer aus dem Westen blicken mit dem einen Auge in den fernen Okzident, der ihnen bis gestern zumindest materielle Sicherheit geboten hat, und mit dem anderen voll Heimweh zurück nach Rumänien. Sie sind die Staatenlosen der EU, die Menschen, die seit 30 Jahren von einem Ort zum anderen fliehen und nie wirklich ankommen. Sie sind Europäer ohne Grenzen, die aber jetzt alle Staaten außerhalb ihrer eigenen Grenzen wissen möchten. So entsteht aus der lähmenden Angst vor dem Virus gerade eine neue Karte mit Grenzen der Unzufriedenheit.

Dr. Florin Oprescu (* 7. Juni 1977, Hateg, Rumänien) ist Gastlektor für Rumänisch am Institut für Romanistik (Uni Wien). Aus dem Rumänischen von Dorothee Fellinger.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.03.2020)

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