Ersparen Sie uns das Joghurt!

Christoph Leitl präsentierte den Kompromiss zwischen SVA und Wirtschaftskammer als „Wurstsemmel“, zu der es obendrein „einen Apfel und ein Joghurt“ gebe.

So soll in Hinkunft die Senkung der Selbstbehalte an die Senkung des Cholesterinspiegels gekoppelt werden. Ein mehr als ungesundes Unterfangen. Künftige Generationen werden vielleicht mit Spott auf unser gesundheitsmedizinisches und ernährungsphysiologisches Halbwissen zurückblicken, ebenso wie wir uns heute Aderlass, Quecksilberkur und bösem Blick überlegen wähnen. Das meiste Kopfschütteln aber wird die mechanistische Vorstellung von Gesundheit auslösen, mit der die Biomacht noch im 21.Jahrhundert ihre Versicherungsträger piesackt. Glücklicherweise waren Frau Minister Kdolsky die Stiefel zu eng, in denen sie 2007 im Rahmen ihrer „Fit statt fett“-Kampagne den Volkskörper treten wollte. Doch die Reglementierungswut wurde nicht wegtherapiert – wie beim historischen „Heurigen-Kompromiss“ zwischen SVA und Wirtschaftskammer zu sehen war.

Dort wollten beide Parteien ihre Freude, sich den Schweinsbraten nun doch noch brav geteilt zu haben, nicht ohne eine Hungerkur für die Versicherten feiern, nicht ohne das lustige Gladiatorenspiel, die soziale Demütigung von zwanzig Prozent Selbstbehalt durch demütigende Disziplinierungsmaßnahmen zu halbieren, deren wissenschaftliche Prämissen, die sogenannten Gesundheitsparameter, höchst zweifelhaft sind.

Nur zwei Parameter, die beim Heurigen aufstießen, Cholesterinsenkung und Gewichtsabnahme, seien auf Herz und Nieren geprüft: Nicht nur belegen die meisten Studien der letzten zwanzig Jahre, dass es kaum einen kausalen Zusammenhang zwischen Zufuhr von Cholesterin durch Nahrung und erhöhtem Cholesterinspiegel gibt, wohl aber, dass die Einnahme von Cholesterinsenkern, die einzige Möglichkeit also, das körpereigene Cholesterin effektiv zu senken, auffällig mit der Zunahme von Krebs, Schlaganfällen, Gedächtnisverlust und Depression korreliert.

Doch damit nicht genug, plädierte die fidele Heurigenpartie nach ihrer Brettljause für Gewichtsreduktion der Versicherten. Gemäß aller prospektiven Studien der letzten Zeit korreliert leichtes Übergewicht mit einer höheren Lebenserwartung. Warum das so ist, weiß man nicht. Es reicht jedenfalls aus, dem menschenfeindlichen Ideal vom stromlinienförmigen, leistungsfähigen Superkörper, der angeblich auch der gesündere ist, ein für alle Mal die freche Selbstverständlichkeit zu nehmen. Die grausame Wahrheit ist, dass ein Großteil der Diäten die Ursache dessen ist, was es autoritär zu reglementieren gilt: das Übergewicht. Durch finanzielle Anreize zur Gewichtsreduktion bekäme der barbarische Zeitgeist, der beleibte Menschen von einem Jo-Jo-Effekt in den anderen, Normalgewichtige in die Magersucht treibt, amtliche Weihen.

Die faktische Widerlegung dieser Gesundheitsparameter ist eine Fleißaufgabe, die man sich getrost sparen könnte, sobald man den ideologischen Charakter der kollektiven Leibesübungen durchschaut hat.

Wo Bonus, da Malus

55.000 armutsgefährdeten „Selbstständigen“ in Österreich soll suggeriert werden, dass die Versicherungsleistungen, für die sie über Gebühr zahlen, Almosen seien, deren sie sich als würdig zu erweisen haben und die ihnen sofort vorenthalten würden, wenn sie weiter durch Fitnessverweigerung und zu große Bisse von Christoph Leitls Wurstsemmel an den milden Gaben schmarotzen. Noch ist es ein Korrektiv durch Belohnung. Doch wo Bonus, da Malus. Die Gebietskrankenkassen überlegen bereits Strafpunkte für eigenmächtige Akkumulatoren von Cholesterin. Denn wer nicht hören will, muss fühlen.

Natürlich weiß das System, dass die gestiegenen Gesundheitskosten nicht dem Sodom und Gomorrha der schlechten Lebensführung, sondern der erhöhten Lebenserwartung geschuldet sind, dem erfreulichen Umstand also, ein Alter erreichen zu dürfen, in dem man seinen Krebs oder Schlaganfall noch erleben darf. Und die Einsparung dieser Ausgaben nur durch einen zivilisatorischen Rückfall hinter Kühltechnik und Penizillin beziehungsweise durch Nikotinaufgabe- und Leistungssportzwang für alle zu bewerkstelligen ist.

Die meisten seriösen Studien relativieren und widerlegen gängige Vorstellungen vom Einfluss von Ernährung und Lebensstil auf die Gesundheit. Wir wissen weniger, als wir glauben, und glauben mehr, als wir wissen. Ein Agnostizismus hierbei birgt eine große Chance: den menschlichen Organismus nicht länger als Experimentierkaninchen monokausaler Gesundheitshypothesen zu begreifen und die Tugend des Zweifels über zweifelhafte Faktizität triumphieren zu lassen. Eine garantiert gesicherte Kausalität aber würden Erhebungen zutage fördern, die den Einfluss von Leistungs- und Erfolgsstress, von sozialer Not und Exklusion, auch von hohen Selbstbehalten auf den Organismus untersuchten. Doch solche Forschungen werden von Pharmafirmen nicht gesponsert.

In einer der bisher größten vergleichenden Studien haben Richard Wilkinson und Kate Pickett jüngst den Beweis erbracht, was Menschen mit Herz und Hirn schon immer wussten: dass Krankheiten und die damit verbundenen Kosten mit zunehmender sozialer Egalität der Gesellschaft abnähmen. Es ist natürlich einfacher, den lästigen Kostenfaktor Mensch Omega-3-Kapseln schlucken zu lassen und zwanzigmal um den Häuserblock zu hetzen, als sich den Konsequenzen dieser Evidenz zu stellen, welche mehr als nur Reformen erforderte. Bis dahin aber, lieber Christoph Leitl, lassen Sie sich Ihre Wurstsemmel gut schmecken, ersparen Sie uns aber den sauren Apfel und Ihr rechtsdrehendes Joghurt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.07.2010)

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