Gastkommentar

Der Fidesz missbraucht die Coronapandemie und höhlt die Demokratie aus

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HUNGARY-HEALTH-VIRUS-POLITICSAPA/AFP/ATTILA KISBENEDEK
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Selbst in der Zeit der höchsten Not missbraucht die Fidesz-Regierung das Vertrauen ihrer Bündnispartnern zur Erweiterung ihrer eigenen Macht.

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Vince Szalay-Bobrovniczky versucht in einem „Presse"-Gastkommentar, Ungarn als Rechtsstaat darzustellen. Das gelingt ihm nur dadurch, dass er die wichtigsten Tatsachen unterschlägt. „Ein wenig mehr Vertrauen aus dem In- und Ausland würde uns guttun, denn die Seuche trifft auch Ungarn schwer.” Genau hier liegt das Problem – nur gerade umgekehrt: Die Fidesz-Regierung bekam nämlich nicht zu wenig, sondern viel zu viel Vertrauen von ihren Bündnispartnern, obwohl sie selbst in der Zeit der höchsten Not dieses Vertrauen nur zur Erweiterung ihrer eigenen Macht missbraucht hat.

Halten wir zunächst fest: Kein einziges Land hat es angesichts der Pandemie für notwendig befunden, ein zeitlich unbefristetes Ermächtigungsgesetz für die Regierung zu verabschieden. Außer Ungarn.

Im folgenden möchte ich einige Gründe aufführen, warum Vertrauen gegenüber der Fidesz-Regierung vollkommen unangebracht ist.

1. Anstatt das Land vorzubereiten, nutzte die Regierung die Pandemie zur Hetze.

Als die ersten Coronafälle in Ungarn auftraten, bestand die Kommunikation der Regierung primär in der Aussage, dass das Virus durch „Migranten” ins Land eingeschleppt worden sei. In Wahrheit waren aber die ersten Infizierten nicht „Migranten”, sondern rechtmäßig in Ungarn studierende iranische Studenten ohne jegliche Migrationsabsichten bzw. ein britischer Staatsbürger, der in Debrecen wohnt und aus Italien nach Ungarn eingereist war. Ein Ungar aus Serbien infizierte sich aber schon vor dieser Fälle durch andere Kontakte: er gilt in Serbien als Nr. 1., sein Existenz wurde aber totgeschwiegen und seine Kontakte blieben unberücksichtigt, weil es nicht sein kann was nicht sein darf. Um Migranten als Sündenböcke hinzustellen, schickte man mehrere iranische Studenten (aber nur sie) in eine kollektive Zwangsquarantäne ohne richtige Versorgung, bei der sich gesunde und bereits infizierte Personen in einem Raum aufhalten mussten. Die Proteste der Betroffenen wurden als „Randale” dargestellt und in einem Atemzug mit dem Migrantenterror in Westeuropa verurteilt.

Zur selben Zeit verkündete Viktor Orbán, dass das Land wohlgerüstet sei – was aber überhaupt nicht zutraf. Es fehlte selbst den Ärzten an Schutzausrüstung. Angesichts der Herausforderungen der Coronapandemie ist das kein Wunder. Ein Politiker sollte aber auch in solchen Situationen die Wahrheit sagen können. Indes wurde mehrere Wochen lang verkündet, dass Masken nicht notwendig, sondern sogar schädlich seien – bis Viktor Orbán endlich zugab, dass sie zwar nützlich seien, die Regierung aber nicht in der Lage sei, das ganze Land mit ihnen zu versorgen.

2. Die Regierung missbraucht die Pandemie, um gegen die Europäische Union zu hetzen.

Die staatlichen ungarischen Medien verbreiten schon seit vielen Jahren die einfältigsten Gräuelnachrichten über die Europäische Union. Wenn es um Migration, EU und Politik geht, entspricht die Auslandsberichterstattung der Staatsmedien schon seit längerer Zeit einer simplen 1:1-Übersetzung des Programms der offiziellen Moskauer Staatssender. Nachdem das erste Hilfspaket der EU für Ungarn mit einem Umfang von 2000 Milliarden Forint verkündet worden war, berichteten die Fidesz-Medien, dass die EU keine Hilfe leiste, wogegen vom Rat der „türkischen Staaten” (Turkmenistan, Aserbaidschan und ähnliche „Demokratien”) und China tatkräftige Unterstützung komme. In Wirklichkeit hatte China jedoch gar nichts kostenlos geliefert, und der Rat der türkischen Staaten schickte 150 000 Masken, was weniger als 0,01% des EU-Hilfspakets für Ungarn entspricht. Ungeachtet dessen erklärte Viktor Orbán am 3. April, dass „wir in dieser Lage Brüssel ruhig unseren Feind nennen dürfen”.

Es ist besonders bedenklich, dass ein EU-Mitgliedstaat selbst in einer solchen Krisensituation gegen das politische System hetzt, obwohl der Fidesz seine finanziellen Spielräume eigentlich nur den EU-Transfers verdankt, die zeitweise nicht weniger als 5% des ungarischen BSP ausmachten!

3. Die Regierung missbraucht die Pandemie, um den Reichtum ihrer Strohmänner weiter zu vergrößern.

Zeitgleich mit der Verkündung des EU-Hilfspakets und der Überweisung der ersten Rate von 500 Milliarden Forint an den ungarischen Staatshaushalt kaufte die Fidesz-Regierung von Lőrinc Mészáros, einem Strohmann Viktor Orbáns, für 17 Milliarden Forint das veraltete Kohlekraftwerk Mátra. Mészáros hatte das Kraftwerk 2017 für ca. 8 Milliarden Forint gekauft, woraufhin massive staatliche Subventionen in das Unternehmen geflossen waren. Davon zweigte Mészáros eine hübsche Dividende in Höhe von 8 Milliarden Forint für sich ab und verkaufte danach das Kraftwerk für 17 Milliarden Forint an den Staat. Das Geschäft wurde am 26. März abgeschlossen. Der Strohmann des Ministerpräsidenten verdiente allein an diesem Geschäft 25 Milliarden Forint. Wie bei fast allen Maßnahmen zur Bereicherung von Orbáns Familie und ihren Strohmännern kommt auch hier das Geld indirekt aus den Töpfen der EU. Vor dem Hintergrund solcher Transaktionen fallen dagegen ähnliche Aktionen, wie zum Beispiel das Verschenken von prächtigen Häusern in einem Villenviertel an die Stiftungen anderer Oligarchen (so geschehen am 1. April), fast gar nicht auf.

Es sollte auch nicht verschwiegen werden, dass die erste Rate der EU-Gelder genau der Summe entspricht, die die Fidesz-Regierung wegen vorschriftwidriger Verwendung von EU-Mitteln als Strafe an die EU zurückzahlen muss. (In einen derartigen Fall ist auch ein Familienmitglied Orbáns involviert.) Aus Sicht des Staatshaushaltes landet mithin ein Teil der nun erlassenen Strafe bei Familie Orbán und ihren Strohmännern.

4. Die Regierung mißbraucht die Pandemie, um ihre politischen Gegner kaltzustellen

Orbán verkündete in den letzten Tagen verschiedene Maßnahmen, die zur Finanzierung der Kosten der Pandemie beitragen sollen. Es ist auffallend, dass er dabei mit Vorliebe die Finanzierung seiner politischen Gegner kürzt, ihnen aber gleichzeitig weitere Aufgaben aufbürdet. Bei den Kommunalwahlen im Herbst 2019 siegte in Budapest und in den größeren Städten die Opposition. Nun nimmt Orbán diesen Städten einen wesentlichen Teil ihrer Einnahmen weg: Parkgebühren, Kraftfahrzeugsteuer, Tourismusabgabe und Einnahmen aus der Vermietung öffentlicher Räume sollen nun entweder wegfallen oder aber in das Budget der Regierung fließen. Dabei versorgen die Kommunen das medizinische Personal auf eigene Kosten mit Schutzausrüstung, weil die Regierung sie nur mangelhaft oder gar nicht zur Verfügung stellt.

Wie teuflisch diese Methoden wirken, kann am besten anhand der Parteienfinanzierung erklärt werden, die nun ebenfalls zur Hälfte kassiert wurde. Die Parteienfinanzierung ist eine 30 Jahre alte Wunde in der ungarischen Politik. Die Summen, die dafür offiziell verwendet worden sind, deckten nur einen Bruchteil der tatsächlichen Kosten. Solange alle Parteien die Einnahmen aus der politischen Korruption bei der Vergabe der öfflentlichen Aufträge gemeinsam unter sich aufteilen konnten (was bis 2010 der Fall war), schien das für die Politik tragbar. Nach verschiedenen Berechungen profitierten davon zu 70% die jeweilige Regierung und zu 30% ihre Opposition. Seit 2010 trocknete der Fidesz diese Geldtransfers jedoch vollständig aus, soweit sie in Richtung Opposition flossen.

Keine Partei darf bei einer Wahl mehr als 2,8 Millionen Euro ausgeben, und die gesamte staatliche Parteienfinanzierung für alle Parteien, die Mandate im Parlament errungen haben, beträgt 4,2 Millonen Euro. Schon diese Summen zeigen, dass damit eine funktionierende Demokratie nicht aufrechterhalten werden kann. Da aber der Fidesz durch seine massive politische Korruption die eigene Finanzierung problemlos aus anderen Quellen leisten kann, macht es ihm nichts aus, wenn die staatliche Finanzierung absichtlich niedrig gehalten wird. Aber jetzt wird auch noch diese niedrige Summe halbiert.

5. Die Regierung missbraucht die Pandemie, um die unabhängige Presse kaltzustellen.

Durch das neue Ermächtigungsgesetz des Fidesz wird nun auch das Äußern bestimmter Tatsachen unter Strafe gestellt. Im Gesetzestext steht wörtlich: Strafbar machen sich diejenigen, die „Tatsachen so verdrehen, dass sie geeignet sind, den Erfolg der Schutzmaßnahmen zu beeinträchtigen oder zu verhindern”.

§ 337 des ungarischen Strafgesetzbuchs sah auch schon früher Sanktionen für die Verbreitung von Gerüchten vor. Eine Voraussetzung der Strafbarkeit war jedoch, dass die Verbreitung der Gerüchte am konkreten Ort der Gefahr geschehen und eine größere Zahl von Menschen in Unruhe versetzen musste. Diese Hürden fallen nun weg. Außerdem müssen die Gerüchte gar nicht mehr zu Unruhe führen bzw. den Erfolg der Schutzmaßnahmen beeinträchtigen – es genügt, wenn sie dazu „geeignet sind”.

Angesichts der Tatsache, dass der Fidesz einen Teil der Rechtsprechung bereits gleichgeschaltet und Strafprozesse nach Belieben an der Regierung wohlgesonnene Richter umdelegiert hat (und dass wegen eines solchen Falles bereits ein Ungarn belastendes Urteil des Europäischen Gerichtshofes vorliegt), kann das Risiko der Einschränkung der Pressefreiheit als sehr hoch eingeschätzt werden.

Die Fidesz-Propagandisten wischen sämtliche Vorwürfe, dass die Partei in Ungarn bereits eine Diktatur errichtet habe, mit dem Argument vom Tisch, dass es doch eine unabhängige oppositionelle Presse und oppositionelle Parteien gebe und niemand wegen seiner politischen Meinung strafrechtlich verfolgt werde. Es wäre aber naiv, nur diejenigen Staaten als Diktaturen zu bezeichnen, in denen unbequeme Staatsbürger in Konzentrationslagern oder Gefängnissen landen oder ermordet werden. Der neue Typ Diktatur ist der der ausgehöhlten, ihres Inhalts beraubten Demokratie. Parlament, Parteien und Oppositon sind nur als Kulisse vorhanden. Unbequeme Personen werden zwar nicht unbedingt immer juristisch verfolgt, ihre Existenzen aber werden vernichtet. Dank des Fidesz hat Ungarn in den letzten zehn Jahren auf diesem Gebiet des Scheinparlamentarismus erschreckende Entwicklungen durchgemacht. Wir haben heute nicht nur die Pandemie zu bekämpfen, sondern auch diesen politischen Stil, der in seiner Konsequenz die Existenz der EU bedrohen kann.

Der Autor

Krisztián Ungváry (*1969) ist ein ungarischer Historiker mit Schwerpunkt auf die Politik- und Militärgeschichte des 20. Jahrhunderts.

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