Leserstimme

Gedanken über die wohl ungewöhnlichste Karwoche unseres bisherigen Lebens

Was Friedrich Hölderlin und Albert Camus in Zeiten von Corona aktuell macht.

Das Coronavirus bringt für die meisten von uns die wohl ungewöhnlichste Karwoche und das ungewöhnlichste Osterfest unseres bisherigen Lebens, eine Zeit im Ausnahmezustand. Eltern, Großeltern und/oder Urgroßeltern erinnern sich aber wahrscheinlich auch an die Karwoche und Ostern des Jahres 1945, diesen Ausnahmezustand der letzten Kriegswochen in Europa, dem ab dem 8. Mai 1945 für Österreich und Europa eine historisch einzigartige Entwicklung der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte, des friedlichen Einigungsprozesses, der Prosperität, des Wohlstandes und der sozialen Stabilität folgte,  für die wir zutiefst dankbar sein und die wir mit Entschiedenheit gegen alle Gefährdungen, Probleme und Rückschläge schützen und weiterführen müssen. Das wieder verstärkt bewusst zu machen, ist wohl der tiefere Sinn des vor uns liegenden Gedenkens 100 Jahre Bundesverfassung, 75 Jahre 2. Republik und 25 Jahre EU-Mitgliedschaft Österreichs, in welcher Form auch immer es sich manifestiert.

Am 29. März 1945 erreichten russische Truppen erstmals österreichischen Boden, Der Osten und Südosten Österreichs, das ja im März 1938 von Hitlerdeutschland annektiert und bis 1945 seiner Eigenständigkeit und seines Namens beraubt wurde, war damit zum Schauplatz des Bodenkrieges geworden. Am Ostersonntag, 1. April nahm die Rote Armee Eisenstadt ein, zahlreiche österreichische Städte, insbesondere Graz, wurden in den Osterfeiertagen Ziele massiver alliierter Bombenangriffe, am 5. April begann die „Schlacht um Wien“, das Burgenland, die östlichen Teile Niederösterreichs und der Steiermark waren Kriegsschauplätze, am 13. April war Wien von der Naziherrschaft befreit, ÖVP, SPÖ und KPÖ und der Gewerkschaftsbund bildeten sich in den nächsten Tagen, am 27. April proklamierte die provisorische Staatsregierung mit Karl Renner an der Spitze die Unabhängigkeit und Wiederherstellung  der demokratischen Republik Österreich. Unterzeichner waren neben Renner  der spätere Vizekanzler Adolf Schärf (SPÖ),  der spätere Nationalratspräsident Leopold Kunschak (ÖVP)  und Johann Koplenig (KPÖ). Ganz Österreich - so auch Graz  - war erst mit der bedingungslosen Kapitulation Nazideutschlands am 8. Mai befreit.

Oft wird dieser Tage in Zusammenhang mit der „Corona-Krise“ Friedrich Hölderlin, dessen Geburtstag sich im März zum 250. Male jährte, mit „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch“ zitiert -  die dritte und vierte Zeile aus seiner 1803 vollendeten Patmos-Hymne zitiert. Weniger bekannt ist, was in den ersten beiden Zeilen steht:

In der Druckfassung

„Nah ist 

Und schwer zu fassen der Gott.“

In einer späteren Fassung

„Voll Güt ist; keiner aber fasset

Allein Gott.“

Das wieder zu erinnern, habe ich der in den letzten Wochen wieder größer gewordenen Lese-Zeit zu danken - eines der wenigen Positiva der gegenwärtigen Situation.

Apropos Lese-Zeit: In der FAZ vom 28. März habe ich einen Essay des deutschen Literaturwissenschaftlers Claus Leggewie über „Die Pest“ von Albert Camus gefunden, jenes großartigen Romans, den der selbst im heutigen Algerien geborene  Literaturnobelpreisträger des Jahres 1957 im algerischen Oran spielen lässt und den er nach fünfjähriger Arbeit 1947 veröffentlichte. Camus, der mich mit seinem Denken, insbesondere seinem positiven Bild des Sisyphos immer fasziniert hat, entdeckt durch den Arzt Bernhard Rieux, die Hauptfigur des Romans, den ich in meiner Maturazeit gelesen und an den ich zu Beginn der Corona-Krise hierzulande sofort gedacht habe, laut Wikipedia-Eintrag eine „ neue Art des Humanismus, welche mit Solidarität gleichgesetzt werden kann.“ (Eine eigentlich  wunderbare Vorstellung). Auch wenn der der Résistance verbundene Autor wohl metaphernhaft insbesondere die Seuche des Nationalsozialismus im Blick hatte (und das sollte man sich angesichts totalitärer Versuchungen und des Gifts des fundamentalistischen rassistischen Populismus heute auch bei den folgenden Zitate vor Augen halten), wirken die von Leggewie ausgewählten Kernsätze aktueller denn je:

„Jetzt wird man ohne weiteres zugeben, dass unsere Mitbürger in keiner Weise auf die Ereignisse vorbereitet waren, die sich im Frühling dieses Jahres abspielten.“

Als Begründung, warum ein Nachbar im Roman einem Sterbenskranken hilft: „Ich kann übrigens nicht behaupten, dass ich ihn kenne. Aber man muss sich gegenseitig helfen.“

„Weil die Plage das Maß des Menschlichen übersteigt, sagt man sich, sie sei unwirklich, ein böser Traum, der vergehen wird. Aber er vergeht nicht immer, und von bösem Traum zum bösem Traum vergehen die Menschen, und die Menschenfreunde zuerst, weil sie sich nicht vorgesehen haben.“

Nach zehn Monaten ist die Seuche im Roman in Oman ausgerottet. Aber die Seuche bleibe möglicherweise in „Zimmern, Kellern, Koffern und Papieren“ stecken und könne die Ratten abermals „zum Sterben in eine glückliche Stadt schicken“. Dennoch wird als Ziel der Chronik des Romans genannt „schlicht (zu) schildern, was man in den Heimsuchungen lernen kann, nämlich, dass es an den Menschen mehr zu bewundern als zu verachten gilt.“

Daher: „It is our duty to remain optimists“(Sir Karl R. Popper) und „Il faut imaginer Sisyphe heure und“ (Albert Camus).

Der Autor

Herwig Hösele (*1953) ist ein ehemaliger Politiker (ÖVP) und Autor. Gemeinsam mit der früheren steirischen Landeshauptfrau Waltraud Klasnic gründete er im Jahr 2007 das Beratungsunternehmen Dreischritt GmbH, bei dem er seit 2019 wieder Geschäftsführer ist.

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