Gastkommentar

Gab es Politik- und Expertenversagen?

Wir können heute nicht abschätzen, ob es das von Stefan Weber beklagte Versagen der Politik gab, und wenn, wie schwer es war.

Gastkommentare und Beiträge von externen Autoren müssen nicht der Meinung der Redaktion entsprechen.

>>> Mehr aus der Rubrik „Gastkommentare“

Stefan Weber beschäftigt sich in seinem Kommentar („Die Presse“, 19. 3.) intensiv mit der Frage, ob Politik und Wissenschaft in der Coronakrise versagt haben. 20 Fragezeichen finden sich darin! Wir können heute nicht annähernd abschätzen, wie schwerwiegend das von ihm in den Raum gestellte Versagen war, solang wir nicht die Gesamtheit der Folgen der Pandemie kennen. Angesichts des Zusammenspiels einer Vielzahl von kurz-, mittel- und langfristigen Ursachen und einer Vielzahl an Verursachungsfaktoren über die einschlägige Wissenschaft und die Politik hinaus (Psychologie, Geschichte, Kultur, Religion etc.) werden wir wohl nie zu einer schlüssigen Antwort kommen. Dennoch lassen sich einige eher grundsätzliche Erklärungselemente isolieren.

Erstens: Die großen Seuchen, von der Pest bis zur Spanischen Grippe, spielen heute kaum mehr eine Rolle im kollektiven Gedächtnis und Bewusstsein. Sars mit weltweit rund 800 Toten, die Mehrzahl in Asien, hat daran nichts ändern können. Daher war das Thema Pandemie als Forschungsgegenstand nicht annähernd so interessant wie die Wetterforschung oder die Entwicklung der künstlichen Intelligenz. Vor allem fehlte jedes Wissen über das neue Virus, wie es übertragen wird, wie lang die Inkubationszeit ist, wie gefährlich es ist.

Zweitens: Es ist nicht so, dass eine wissenschaftliche Disziplin einen abgeschlossenen Wissenskorpus mit fertigen Rezepten darstellt, sie läuft vielmehr als ständiger Prozess von Trial and Error ab. Auch die nun von Großbritannien und den Niederlanden aufgegebene Politik der „Schwarmimmunisierung“ wurde wissenschaftlich begründet. Und die breit etablierte ökonomische Wissenschaft bietet der Politik eine farbige Palette teilweise widersprüchlicher Erkenntnisse an. Da hilft keine „Beschleunigung der Publikationspraxis der Wissenschaft“.

Drittens: Selbst wenn klare und eindeutige wissenschaftliche Ergebnisse vorliegen, tut sich Politik in Demokratien mit deren rascher Umsetzung schwer. Es müssen gesetzliche Grundlagen für massive Beschneidungen der Bürgerrechte und Eingriffe in die Verfassung geschaffen werden; es muss öffentliches Bewusstsein entwickelt werden, um entsprechende Mehrheiten für diese Maßnahmen und die notwendigen Kompetenzänderungen zu erreichen. Bundesstaatlich organisierte Länder haben es noch schwerer als zentralistisch verfasste. Die fehlenden Kompetenzen der EU und die mangelnde Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten stellen sich gerade in Krisensituationen dramatisch dar. Man mag es „Politikversagen“ nennen, tatsächlich handelt es sich um fundamentale Unzulänglichkeiten der europäischen Governance-Strukturen.

Ermutigende Hinweise

Niemand kann sagen, wie die Krise weitergehen wird. Es gibt aber ermutigende Hinweise, nicht zuletzt in Österreich. Die Infektion scheint nur für eine kleinere Bevölkerungsgruppe lebensgefährlich zu sein. Maßnahmen zur Kontaktminimierung scheinen zu wirken (China, Taiwan), die Zahl der Länder, die hart durchgreifen, ist beeindruckend. Covid-19 zum Anlass zu nehmen, ein Ende der Globalisierung zu fordern, wäre ein Fehler. Unser weltweit erreichter Wohlstand ist in hohem Maß der Globalisierung zu danken. Wieder eine Periode kräftigen Wirtschaftswachstums zu erreichen muss nach Überwindung der Pandemie Priorität haben. Die umfangreichen fiskal- und geldpolitischen Hilfsmaßnahmen sind angesichts des zu erwartenden drastischen Wachstumseinbruchs ein Gebot der Stunde; diese Maßnahmen nach Krisenende rasch zurückzuführen eine wirtschaftliche Notwendigkeit, soll der klimapolitische Green Deal eine Chance auf Realisierung haben.

Dr. Erhard Fürst (geboren 1942) leitete zuletzt den Bereich Wirtschaft und Industriepolitik der Industriellenvereinigung.

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.