Kolumne zum Tag

Tomaten an der Mauer

Inmitten dieser Tomateneuphorie steckend lese ich zum ersten Mal von Osman Kalın.

Ich habe kürzlich eine kleine Tomatenpflanze bestellt und sie so gegossen und gepflegt, wie es mir das Internet gesagt hat. Nun sehe ich eine kleine Frucht wachsen: Groteskerweise freut mich das so sehr, dass ich Fotos von dieser einzigen unreifen Tomate nicht unstolz quer durch meine WhatsApp-Kontakte versende.

Inmitten dieser Tomateneuphorie steckend lese ich zum ersten Mal von Osman Kalın. In den 50er-Jahren kam Kalın aus der türkischen Provinz Yozgat als sogenannter Gastarbeiter zunächst nach Österreich, dann nach Süddeutschland, ehe er sich mit seiner Familie in Westberlin niederließ, nahe an der Mauer in Kreuzberg. Dort entdeckte Kalın Anfang der 80er-Jahre ein Stück zugemülltes Brachland, eine Art Verkehrsinsel, wo kurioserweise der Grenzwall ausgespart blieb. Das Stück gehörte zu Ostberlin, war aber auf der Westberliner Seite. Kalın begann, die brache Wiese zu säubern, mit dem Sperrmüll baute er eine Art Hütte und dann tat er, was er tun musste: Er grub die Erde um und pflanzte Tomaten, Zucchini, Kohl, Kürbisse und selbst ein paar Obstbäume gingen sich aus.

Die Nationale Volksarmee konnte sich keinen Reim auf den Pensionisten machen, sie dachten, er gräbt einen Tunnel, und so kamen sie bewaffnet zur Inspektion, aber da stand nur ein türkischer Opa mit Gebetskappe und Frühlingszwiebeln in der Hand. Bis zur SED ging Kalıns Garten der Legende nach. Und jemand beschloss: Er durfte bleiben. Die Soldaten auf beiden Seiten lernten ihn mit der Zeit kennen, und er die Soldaten. Er gab ihnen Gemüse, berichteten lokale Reportagen, und die Soldaten ihm Weihnachtsgeschenke. Kalıns baumhausartige Hütte wurde mit der Zeit größer, nach dem Mauerfall war sie gar zweistöckig. Die Hütte überlebte einen Brandanschlag in den 90ern nicht, wurde aber wieder aufgebaut. Im wiedervereinten Berlin sollte Kalın den „illegal genutzten Platz“ räumen, doch der Pfarrer der nahe gelegenen evangelischen Kirche verhinderte das. Kalın starb 2018 92-jährig. Seine Hütte kann man besichtigen: Ein Zeugnis davon, wie sich jemand in der Grauzone der Geschichte einen Platz freigeschaufelt hat, um Tomaten zu pflanzen.

E-Mails an: duygu.oezkan@diepresse.com

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