Dem Zufall entgegen

„Im Wald der Metropolen“ von Karl-Markus Gauß: eine sehr persönliche europäische Kulturgeschichte, in der die tollsten Volten geschlagen werden und die hellsten Lichtpunkte auf Vergessenes fallen.

Als Karl-Markus Gauß von den Moderatoren des Radiosenders Ö3 behauptete, dass sie „aus den größten Deppen jedes Maturajahrganges rekrutiert werden“, worauf zum tausendsten Mal angesprochen zu werden er heute längst keine Lust mehr hat, schlugen die Macher von Ö3 zurück, indem sie Gauß vorwarfen, von seinem hohen intellektuellen Ross aus auf den Massengeschmack zu spucken. Die Anekdote ist längst Makulatur, wobei es immer noch nicht schwer fällt, mit Gauß einer Meinung zu sein. Interessanter ist die Frage, ob er sich damals der Sünde des hochmütigen Abscheus vor dem Banalen schuldig gemacht hat.

Bei der Entscheidung hilft ein Blick auf Seite 251 und 252 von Gauß' Buch „Im Wald der Metropolen“: Gauß sitzt im Hallenchor der Liebfrauenkirche von Arnstadt, der als der schönste gotische Hallenchor Thüringens gilt, und betrachtet in vorbildlicher Bildungsbürgerlichkeit die „Schöne Madonna von Arnstadt“, als seine Aufmerksamkeit von einem älteren Mann mit etwa 25 Jahre jüngerer, weiblicher Begleitung abgelenkt wird. „Wie sie nebeneinander standen, sich bewegten und miteinander sprachen, wusste ich mich nicht zu entscheiden, ob ich sie für Vater und Tochter oder ein Ehe- oder sonstiges Paar halten sollte, und die Ungewissheit ärgerte mich ebenso sehr, wie es mich ärgerte, dass mich, gleich an welchem Ort, immer Fragen wie diese aus der Ruhe bringen.“ Das ist wunderbar, und wunderbar sympathisch, dieser von einer herrlich banalen und massengeschmackskompatiblen Frage in Turbulenzen gestürzte Karl-Markus Gauß! Auf einem hohen Ross sitzt er nicht. Seine Neugier auf alles Zwischenmenschliche und Alltägliche ist ausgeprägt, man könnte beinahe von einem Hang zu ganz normalem Tratsch und Klatsch sprechen, machte er es nicht so appetitlich und reflektiert und hielte er sich selbst dabei nicht so genau unter Beobachtung.

40 Seiten davor begegnen wir Gauß eines glühend heißen Vormittags auf der griechischen Insel Patmos, wie er sich zunehmend um Luft ringend in die Oberstadt einer Ortschaft hinaufschleppt, um dort nichts anzutreffen, als einen einzelnen Alten, der im Schatten einer Brüstung sitzend eine Kette aus Kügelchen immer wieder gegen den Rücken seiner Hand schlägt. Da erfasst Gauß ein leichter Ingrimm, ein Nachdenken über den „Fluch der Ablenkung“, unter dem ihm sein eigenes Leben zu stehen scheint, eine Existenz, die stets in Bewegung bleiben muss, und nichts weiß von „dem geduldigen Verzehren, dem mümmelden Durchkauen der Ereignislosigkeit“, dem die alten griechischen Männer so ungehemmt und ohne Gewissensbisse anhängen. Gauß ringt mit sich: Sollen ihm dieser Männer, „die vollkommen eins waren mit ihrer Untätigkeit“, als „Idioten oder als Weise“ erscheinen?

Hier treffen wir auf einen Menschen – der Gott sei Dank zudem auch noch ein hochbegabter Schreibender und ein großer Neugieriger ist –, der durchlässig ist für die Dinge, die ihm unterwegs begegnen. Er setzt sich selbst ständig in Beziehung zu seiner Umgebung und muss das Neue, das er sieht, umgehend eingemeinden in seine eigene Kopfmanufaktur, wo es weiter verarbeitet wird, Beziehungen eingeht mit bereits Gespeichertem und überraschende Verbindungslinien herstellt. Im diesem Buch hat Gauß aus seiner Durchlässigkeit und emotionalen Beweglichkeit eine durchgängige literarische Methode gemacht, die ihm passt wie ein maßgefertigter Handschuh: „Im Wald der Metropolen“ wird der Zufall zum Auslöser für vielfältigste Erzählketten. Er tritt eine Geschichte los und plötzlich spannt sich ein weiter Bogen wie dieser auf.

Im französischen Beaune sieht Gauß am Nebentisch einen Mann, der aufs Wüsteste grimassiert. Das lässt ihn eine Zeitlang bei den „Charakterköpfe“ genannten Büsten des österreichischen Bildhauers Franz Xaver Messerschmidt verweilen und weitergehen zu einer Büste des Fürsten Joseph Wenzel I. von Liechtenstein, die erst kürzlich als Messerschmidt-Werk identifiziert wurde.

Von diesem „aufgeklärten Despoten“ ist dann die Rede und von seinem einflussreichen, hoch gebildeten und klugen Kammerdiener Angelo Soliman, der es – ein afrikanischer Königssohn – vom Sklaven zum fürstlichen Berater brachte, in Ungnade fiel, als er ohne Erlaubnis eine Bürgerliche heiratete, und schließlich nach seinem Tod ausgestopft und als exotisches Sammelstück dem „Physikalischen Kunst- und Tierkabinett“ des Kaisers eingegliedert wurde, bevor seine solcherart entehrten Überreste 1848 nach einem Brand endlich zu Asche werden durften. In dem Wiener Arzt Ernst von Feuchtersleben, einem der Ahnherren der Psychosomatik, entdeckt Gauß den Halbbruder des Enkels von Angelo Soliman, der seinerseits die ehrenvolle Laufbahn eines Sudmeisters in den kaiserlichen Salinen des Ausseerlandes einschlug.

Solcherart sind die Erzählmäander in diesem Buch. Sie führen in die Slowakei und nach Polen, nach Belgrad, in den Elsass und nach Griechenland, nach Istanbul und Bukarest, Ostdeutschland, Wien und Belgien. In allen darin versammelten Geschichten verbinden sich Gauß' Reise- mit seinen Lese- und Bildungserfahrungen, verbinden sich Vorwissen und vor Ort Erlebtes zu einer vielfältigen, tiefgründigen Form der Reiseessayistik. Gauß erzählt in der ihm eigenen, ausgefeilten, reichhaltigen Sprache.

Einer, der auch so formvollendet und mitreißend erzählen konnte, war der deutsche Schriftsteller und Gelehrte W.G. Sebald, der vom ostenglischen Norwich aus das wundervollste Deutsch schrieb. In seinem Buch „Die Ringe des Saturn“, der Beschreibung einer Fußreise durch die Grafschaft Suffolk, folgt Sebalds Erzählung einem ähnlich komplexen, sich in Dutzende Seitenarme und Mäander auffächernden Lauf. Man muss den einen nicht im Geringsten gegen den anderen ausspielen, wenn man sagt, dass Gauß' Schreiben Humor besitzt; eine Kategorie, die bei Sebald einfach abwesend war. Besser noch nennt man es eine feine, leise Ironie, die beim Lesen eine stabile gute Laune erzeugt. Diesmal verdanken wir Gauß etwa die ausgezeichnete Richtungsangabe „schlürfwärts“ und entdecken mit ihm in einer dunklen Seitenkapelle der Kathedrale von Tours eine 80-jährige Frau beim verzweifelten Versuch, halbwegs unbefleckt ein tropfendes Riesensandwich zu verzehren.

Man könnte sagen: Gauß hat sich bisher auf seinen Wegen stets ganz streng querfeldein gehalten. Er mied die Hauptstraßen und die Herden und suchte dort, wo idealerweise noch kein anderer seine Nase hineingesteckt hatte, nach Trüffeln. Vorzugsweise lagen die Gebiete seiner Schatzsuchen in der südosteuropäischen Provinz. Im neuen Buch ist diese Methode noch verfeinert. Es geht immer weniger um die Abgelegenheit von Ort oder Thema, sondern darum, dem Zufälligen höflich die Tür zu öffnen und mitunter auch entlang der Hauptrouten nach unterirdischen oder vergessenen Besonderheiten zu suchen. Dieses hinreißende Buch stellt eine Behauptung auf, die es selbst aufs Vollkommenste einlöst: Wenn man nur lange genug hinschaut, stößt man so gut wie überall auf Berichtenswertes.

Es ist Gauß' literarischem Gespür zu verdanken, dass er nicht jeder möglichen Assoziationskette, jedem Seitenstrang, der sich auftäte, bis zum Ende folgt – nur um unter Beweis zu stellen, dass er fähig ist, alles mit allem in Beziehung zu setzen. Nein, dieses Buch ist vor allem auch ein Buch des rechten Maßes. Es lässt sich vom Zufall leiten, wo es sinnvoll ist und sich Interessantes auftut. Aber jedem blöden Zufall nachgerannt wird nicht. Im rechten Augenblick bricht Gauß ab und beginnt mit einer neuen Geschichte. Trotzdem hat das Buch keinen ganz linearen Aufbau. Ein nur kurz erwähnter Jean Genet als Häftling im großen französischen Gefängnis von Fontevraud kann schon ein paar Seiten weiter im Zentrum eines eigenen kleinen Abschnitts stehen. Es ist, als würde Gauß Köder auslegen, die man – stößt man wenig später wieder auf sie – nur umso begieriger beim Lesen wieder aufgreift. Das ist äußerst klug gemacht.

Was sich aus all den Biografien und Gebäudegeschichten, den nacherzählten Leben vergessener Schriftsteller, den Beschreibungen von Friedhöfen, Plätzen und Straßenzügen, den historischen Exkursen und den Skizzen von Begegnungen ergibt, ist eine europäische Kulturgeschichte als buntes Mosaik. Die Steinchen hat Gauß zumeist in archäologischer Arbeit selbst ausgebuddelt oder zumindest dem Vergessen entrissen. Er interessiert sich für Städte und Orte, die irgendwann im Lauf ihrer Geschichte einen Höhepunkt erlebt haben, im Positiven wie im Negativen, die in der historischen Landkarte ein Zeitlang deutlich sichtbar eingezeichnet und weitum bekannt waren, um dann wieder in die Bedeutungslosigkeit abzusinken.

Arnstadt in Thüringen ist so ein Ort, der das ganze Mittelalter über als Handelsort blühte, ein Umstand, von dem die heute auf seinem Marktplatz stattfindenden Flohmärkte kaum mehr Kunde geben. Dafür erzählen diese eine andere interessante Geschichte: An den Flohmärkten der europäischen Städte, egal ob Arnstadt oder Brüssel, lässt sich ablesen, wie die Ränder Europas ins Zentrum eingebrochen sind, „wo nicht mehr der Wohlstand von gestern, sondern die Armut selbst, die hier noch Waren abwarf“ angeboten wird. Schund, Tand, zerrissene Kleider und funktionsunfähige Gegenstände, die allesamt kaum Käufer finden. Allein diese Beobachtungen über das sich verändernde Wesen von Flohmärkten würden das Buch schon lesenswert machen.

Aber da ist vieles mehr. Vergessene Talente wie der preußische Feuilletonist und Romancier Willibald Alexis werden von Gauß ebenso ins Licht gestellt wie die Rolle des Brünner Regens in den Gedichten des früh verstorbenen tschechischen Dichter-Wunderkinds Ivan Blatný oder die „pechschwarzen Staatsutopien“, in denen der rumänische Nationaldichter Tudor Arghezi die erst Jahrzehnte später folgende Ära Ceauşescu vorwegnahm. Und an einem Porträt des Italieners Enea Silvio Piccolomini, aus dem Mitte des 15. Jahrhunderts Papst Pius II. wurde, erzählt Gauß von einem vorbildlichen Renaissance-Gelehrten, Humanisten und Freigeist, der als einer der Ersten Europa „als reale Vision“ im Blick hatte, und doch als Papst vor allem eines im Sinn hatte: einen Kreuzzug gegen Konstantinopel auf den Weg zu bringen. Europa, schließt Gauß daraus, habe sich seit je nur denken können, „indem es sich von einem Gegen-Europa abhob, von einem Reich der Barbarei, des Unglaubens, des Rückschritts.“

Man erfährt auch von Gauß' Angst, „an der Enge zu ersticken oder mich in der Weite zu verlieren“. Seltsam: Aus genau diesem Spannungsverhältnis bezieht „Im Wald der Metropolen“ seine Kraft, seine Farbigkeit und Lebendigkeit. Soll noch einer bezweifeln, dass die Ängstlichen die mit der genausten Wahrnehmung sind und aus Neugier nicht auch noch in die unausgeleuchtesten Ecken gehen und nachschauen, was ihnen dort an Berichtenswertem begegnet. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.07.2010)

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