Gastkommentar

Europa muss für einen Covid-Wiederaufbauplan zusammenrücken oder es droht weiterer Zerfall

FILE PHOTO: European Union flags flutter outside the European Commission headquarters in Brussels
FILE PHOTO: European Union flags flutter outside the European Commission headquarters in BrusselsREUTERS
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Es droht eine neue Welle des Euroskeptizismus, wenn wir weiter mit dem „Hamilton-Moment“ argumentieren.

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Seit vielen Jahren werden Euroskeptizismus und Populismus mit einem Virus verglichen, das epidemische Ausmaße angenommen hat. In der EU gibt es die Hoffnung, dass das tatsächliche Virus bereits zur Ausmerzung eines politischen Virus beigetragen hat und dass der Populismus nun allmählich abflaut. Europäische Führungskräfte wie Olaf Scholz haben sogar die Meinung geäußert, dass der Konjunkturplan einen „Hamilton-Moment“ markiert, der dem europäischen Projekt eine neue Zweck verleiht. Ebenso wie der erste US-Finanzminister die Vereinigten Staaten von Amerika auf den Weg zur Föderation brachte, indem er die Schulden aus dem Revolutionskrieg bündelte, hoffen sie, dass der europäische Sanierungsplan eine Etappe auf dem Weg zu den Vereinigten Staaten von Europa sein wird. 

Zweifellos bedarf es eines gewaltigen Wiederaufbauplans, um den europäischen Nationalstaaten nach der Krise wieder auf die Beine zu helfen. Die deutsch-französische Initiative markiert hier einen ebenso mutigen wie notwendigen ersten Schritt auf dem Weg zu einer Wiederbelebung Europas. Eine umfangreiche ECFR-Umfrage weist jedoch auf die Gefahr hin, die öffentliche Meinung im Zusammenhang mit der gegenwärtigen Krise falsch einzuschätzen und ungewollt eine neue Welle von EU-Skepsis auszulösen. Wir fragten Europäer in neun EU-Mitgliedsstaaten, die etwa zwei Drittel der Bevölkerung abdecken, ob sie eine Verteilung der finanziellen Belastungen unterstützen. Die Ergebnisse waren sehr ernüchternd. 

In Ländern, die voraussichtlich zu den Begünstigten eines Wiederaufbaufonds zählen werden, stellten wir eine große Unterstützung für eine finanzielle Lastenteilung fest, jedoch zeichnete sich bislang in keinem der Nettozahlerländer eines solchen Fonds eine Mehrheit für eine finanzielle Lastenteilung ab. Selbst in Frankreich – federführend im Einsatz für Eurobonds – befürworten nur 47 Prozent der Befragten eine finanzielle Lastenteilung; in Deutschland sind es 43 Prozent, in Schweden 30 Prozent und in Dänemark 24 Prozent. Unsere Umfrage hat gezeigt, dass auch ein differenzierter Blick auf die Parteizugehörigkeit nicht wesentlich ermutigender ist. Unter Wählern, die für die dänischen Sozialdemokraten unter Frederiksen stimmen wollen, befürworten gerade einmal 23 Prozent eine finanzielle Lastenteilung.

Wer Unterstützung für den Wiederaufbaufonds gewinnen möchte, muss zunächst einmal die Bedenken skeptischer Länder verstehen: Nicht nur scheinen sie die Einrichtung dauerhafter Transferzahlungen von reichen an arme Länder zu befürchten; auch besteht die Sorge, dass sie eine nicht nachhaltige Wirtschaftsstruktur begünstigen, statt den Weg für eine neue Wirtschaftsform zu ebnen. Um die Menschen dazu zu bewegen, einen Wiederaufbauplan zu befürworten, wird es wichtig sein, nicht mit den Begriffen Solidarität und Föderalismus zu argumentieren, sondern mit Eigeninteresse und Modernisierung. 

Weder Trump noch Xi Jinping sind verlässliche Partner

Betrachten wir zunächst einmal das Eigeninteresse. Die Covid-19-Krise hat vielen europäischen Bürgern gezeigt, dass die globalisierte Weltordnung zerfällt, von der sie abhängig sind. Weder Trump noch Xi Jinping sind verlässliche Partner, und es herrscht große Angst, dass internationale Märkte in dieser Phase globaler Besorgnis geschlossen werden, während China und die Vereinigten Staaten die Globalisierung als Waffe nutzen, um sich gegenseitig zu überbieten. 

Dies liefert neue Argumente für den innereuropäischen Markt. Da viele Länder auf der ganzen Welt zunehmend bestrebt sind, ihre Binnenmärkte zu stärken, werden EU-Mitglieder zu dem Schluss kommen, dass der einzige wirtschaftlich tragfähige Binnenmarkt eher europäisch als national ist. Werfen wir nur mal einen Blick auf die Handelszahlen vor der Covid-19-Krise: Der Handel mit Waren und Dienstleistungen zwischen den Staaten der EU entspricht über zwei Drittel des Gesamthandels der EU-Mitglieder. 59 Prozent der schwedischen, französischen und deutschen, 61 Prozent der dänischen, 71 Prozent der österreichischen und 74 Prozent der niederländischen Exporte gehen in den innereuropäischen Handel.

In den Niederlanden hängen 43,9 Prozent des BIP vom innereuropäischen Warenverkehr ab (in Österreich 29,8%, in Deutschland 21%, in Dänemark 19,9%, in Schweden 18%). Wirtschaftsexperten haben aufgezeigt, dass in vielen europäischen Unternehmen Millionen von Arbeitsplätzen eher aufgrund von kurzfristigen Erschütterungen als aufgrund langfristiger Wettbewerbsunfähigkeit verloren gehen könnten. Eine große einmalige Kapitalspritze in den Markt könnte eine enorme Rendite erwirtschaften, nicht zuletzt in sparsamen Ländern, deren Profite sehr stark vom Binnenmarkt abhängen. Die Gründe, die für den Wiederaufbaufonds sprechen, sind daher eher von Eigeninteresse als von Solidarität geprägt. 

Grüne Zukunft

Die zweite vordringliche Lektion, die die Umfrage uns lehrt, ist, dass Europas Führungskräfte nicht von einer Hamiltonschen Vergangenheit, sondern von einer grünen Zukunft sprechen sollten. Wie aus den Daten der Eurobarometer-Umfrage des Jahres 2019 hervorgeht, nimmt der Klima-Notstand im öffentlichen Meinungsbild aller sparsameren Länder einen enorm hohen Stellenwert ein. Fast drei Viertel (71%) der Österreicher sehen ihn als „ernstes“ Problem, in den Niederlanden (74%), Dänemark (83%) und Schweden (84%) betrachten ihn sogar noch größere Teile der Bevölkerung als ein „sehr ernstes“ Problem. Die ECFR-Umfrage zeigt zudem, dass in Dänemark und Schweden die Menschen, denen die Umwelt am Herzen liegt, auch am meisten bereit sind, eine finanzielle Lastenteilung zu akzeptieren. Wenn die Argumente für den Wiederaufbaufonds also auf die Zukunft statt auf die Vergangenheit ausgerichtet sind, sollte es möglich sein, einen größeren Bevölkerungsanteil für einen Wiederaufbau zu gewinnen.

Wenn die europäischen Staats- und Regierungschefs diese beiden Lektionen berücksichtigen, könnten sie aus dieser Situation tatsächlich einen europäischen Impuls entwickeln. Wenn sie weiterhin mit Solidarität und einem Hamilton-Moment argumentieren, laufen wir hingegen Gefahr, eine neue Welle des Euroskeptizismus anzuheizen und genau die Vorstellungen zu bekräftigen, denen die europäischen Bürger misstrauisch gegenüberstehen. Und genau wie bei der Spanischen Grippe besteht die Gefahr, dass sich diese zweite Welle der EU-Skepsis als die fatalste erweist. Sie könnte zu einem noch heftigeren Aufflammen antieuropäischer Stimmungen führen, diesmal nicht an der europäischen Peripherie, sondern im Herzen Europas.

Mark Leonard ist Geschäftsführer des pan-europäischen Think-Tanks European Council on Foreign Relations (ECFR)

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