Gedenkfeier in Aussig: Unter der Beneš-Brücke

Gedenkfeier Aussig Unter BeneBruecke
Gedenkfeier Aussig Unter BeneBruecke(c) APA (SUDETENDEUTSCHE LANDSMANNSCHAFT)
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Im tschechischen Aussig erinnert man an ein Massaker an Sudetendeutschen im Juli 1945. Langsam brechen alte Denkmuster auf, die Jungen interessieren sich für ihre Geschichte.

Die Sonne meint es gut mit der nordböhmischen Stadt Usti, dem früheren Aussig. Die Restaurant- und Kaffeehausbesitzer am Lidicer Platz, der einst Martini-Platz geheißen hat, machen ihr Geschäft. Wenn etwas Wind aufkommt, stieben Wassertröpfchen von einem Springbrunnen heran. Vor grauer Vorzeit gab es hier den sogenannten Elbbrunnen, gestiftet von einer der österreichischen Honoratioren der Stadt, dem Fabrikanten Carl Georg Wolfrum. Er war 1843 nach Aussig gekommen, betrieb Tuchfabriken und Färbereien, eine Likörfabrik und eine Brauerei. Wolfrum war nicht nur jahrelang Stadtrat, sondern auch Abgeordneter des Landtages und Mitglied des Wiener Reichstags.

Neben dem Theater, das 1908/09 nach Plänen des Wiener Architekten Alexander Graf erbaut wurde, steht, eingerüstet und von blauen Planen verhüllt, ein altes Schulgebäude, das aus zweierlei Gründen interessant ist. Zum einen ist es das erste Gebäude in der früheren Tschechoslowakei, das mit Fernwärme versorgt wurde. Zum anderen aber und wichtiger ist seine zukünftige Bestimmung, für die es derzeit saniert wird. Auf einem Transparent kann man es lesen: „Hier wird mit EU-Mitteln das Stadtmuseum rekonstruiert, als Zentrum für tschechisch-deutsche Studien.“ Und wie ein Motto steht darüber: „Die Vision hört auf, ein Traum zu sein.“


„Sie hatten die Wahl.“ Das Museum wird die neue Heimstatt für das Collegium Bohemicum, eine Einrichtung, die das Zusammenleben der Tschechen und Deutsch-Böhmen wissenschaftlich untersucht. Die Idee des Collegium Bohemicum wurde schon 1996 in einem Biergarten von ortsansässigen tschechischen Historikern geboren, nicht etwa auf Druck aus Deutschland oder Österreich, wo man gern die böhmischen Nachbarn mahnt, „endlich ihre Geschichte aufzuarbeiten“.

Den Janeceks, die in einem der Restaurants am Lidicer Platz an ihrem Schnitzel säbeln, ist das bis heute nicht geheuer: „Mir gefällt das überhaupt nicht. Wir wecken nur schlafende Hunde. An diesem Wochenende werden die Sudetjaken wieder nach Usti kommen und an das angebliche Massaker 1945 erinnern“, runzelt das Familienoberhaupt Josef die Stirn. Seine Frau, ebenfalls schon lange in Pension, sieht es genau so, auch wenn sie das abfällige „Sudetjaken“ für die Sudetendeutschen vermeidet: „Die Deutschen hatten die Wahl. Sie wollten ,heim ins Reich‘. Und dahin sind sie dann nach dem Krieg auch gekommen.“

Solche Aussagen, wie aus alten sozialistischen Geschichtsbüchern auswendig gelernt, werden aber weniger in Usti. Einer, der sich darum verdient gemacht hat, ist der frühere Oberbürgermeister Petr Gandalovič. Am 31.Juli 2005 enthüllte er auf der Elbebrücke, die bis heute den Namen Edvard Beneš trägt, eine Gedenktafel: „Diese Tafel ist keine leere Geste“, betonte er seinerzeit. „Wir sind das den Opfern schuldig. Hier sind Zivilisten umgebracht worden, und das, als schon Frieden herrschte.“ Auf der Tafel steht, in Tschechisch und Deutsch: „Zum Gedenken an die Opfer der Gewalt vom 31. Juli 1945.“

Blindwütig getötet. Die Tafel erinnert an eines der schlimmsten Verbrechen während der Phase der sogenannten wilden Vertreibungen der Deutsch-Böhmen aus der Tschechoslowakei. Nach der Explosion in einer Fabrik wurden Deutsche durch die Stadt gejagt, blindwütig erschlagen, in einem Löschwasserspeicher ersäuft oder von der Beneš-Brücke in die Elbe gestoßen. Tage später trieben im sächsischen Pirna an die 80 Leichen ans Ufer.

Das Massaker von Aussig ist heute nahezu aufgeklärt. Historiker unter Federführung von Vladimir Kaiser haben Jahrzehnte geforscht. Im Vorjahr stießen sie darauf, dass eine Frau und ihr Kind, die damals in den Fluss geworfen worden waren, überlebt hatten: „Sie wurden von einem gerade dort fahrenden niederländischen Schiff aus dem Wasser gefischt.“ Die von Sudetendeutschen behaupteten Opferzahlen im fünfstelligen Bereich kann Kaiser nicht bestätigen. „Wir haben Belege für unter 100 Opfer gefunden, was jedoch nicht die Grausamkeit des damaligen Vorgehens rechtfertigt.“ Dass an diesem Wochenende wieder Sudetendeutsche in ihre alte Heimat kommen werden, um der Ermordeten zu gedenken, hat für den Historiker seine Richtigkeit.

Doch es sind nicht mehr nur die Alten, die sich für das Geschehen von einst interessieren. „Vor 15 Jahren wäre die Aufschrift auf dem Transparent am Museum mit dem Hinweis auf das Collegium Bohemicum für viele Tschechen noch eine Provokation gewesen“, ist Martin Krsek, ein anderer Geschichtswissenschaftler, überzeugt. Dass es heute ruhiger geworden ist, hängt nach Meinung der Historiker auch mit der Biologie zusammen: „Die Zeitzeugen mit ihren Vorurteilen im Kopf werden weniger. Zwar existiert bis heute etwa der nationalistisch-kommunistische ,Klub der tschechischen Grenzgebiete‘, der gegen ein Erinnern an die Deutschen auftritt, aber das Durchschnittsalter der Mitglieder dort liegt über 80.“

Verschwundenes Sudetenland. Das neue Interesse an der eigenen Geschichte kommt von den Jungen. Herausragend ist ein Unterrichtsprojekt an Gymnasien in vier böhmischen Städten, das ebenfalls vom Collegium Bohemicum angeschoben wurde. Studenten der Bürgerinitiative „Antikomplex“ erforschen mit den Schülern das Schicksal der Deutschen. „Antikomplex“ hat in Tschechien Berühmtheit mit dem Projekt „Das verschwundene Sudetenland“ erlangt, in dem die Geschichte jener Dörfer im früheren Sudetengebiet dokumentiert ist, die nach 1945 zerstört oder neu besiedelt wurden. Das Buch darüber wurde zum Verkaufsschlager.

Der Begriff „unsere Deutschen“, den der tschechoslowakische Staatsgründer Tomas G. Masaryk verwendet habe, gehe den meisten zwar noch schwer über die Lippen, sagt Historiker Kaiser. „Aber in ein paar Jahren dürfte das wieder ein stehender Begriff sein.“ Störfeuer will er nicht ausschließen und erinnert an die Forderung des Prager Präsidenten Václav Klaus nach einer Bestätigung der Beneš-Dekrete als Gegenleistung für seine Unterschrift unter den Lissabon-Vertrag. „Klaus spricht von nationalen Interessen, aber eigentlich meint er ,völkische‘ Interessen. Das ist, mit Verlaub, eine idiotische Politik, die uns ins 19. Jahrhundert zurückzieht. Das lassen die Tschechen auf Dauer nicht mit sich machen.“

In Böhmen, Mähren und Schlesien waren deutsche Volksgruppen bereits seit dem Mittelalter ansässig. 1910 war etwa ein Drittel der Bevölkerung dieser Regionen deutsch.

Nach dem Zerfall der Habsburgermonarchie regelte der Vertrag von Saint-Germain 1919 den Verbleib der von den Sudetendeutschen bewohnten Gebiete bei der Tschechoslowakei. 1938 wurden diese Gebiete vom Deutschen Reich annektiert.

Im Oktober 1945 erließ der damalige Präsident Edvard Beneš die nach ihm benannten Beneš-Dekrete, mit denen die junge Republik die Enteignung und Vertreibung der Deutschen legitimierte.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.08.2010)

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