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Der soziale Taktiker

Hitler, der Judenfreund? Angeblich wäre Hitlers Hass auf die jüdische Bevölkerung erst nach dem Ersten Weltkrieg entstanden. Aufgrund neuer Quellenfunde wird diese These nun hinterfragt. Geschichte einer Fehldiagnose.

Seit einigen Jahren lancieren Hitler-Biografen als angeblich gesicherte Erkenntnis, dass Adolf Hitler in Wien kein Antisemit, sondern im Gegenteil ein Freund und Verehrer von Juden gewesen sei. Erst nach dem Ersten Weltkrieg wäre sein Judenhass entstanden. Aus österreichischer Sicht war diese These nie so recht plausibel, jetzt wird sie aufgrund neuer Quellenfunde hinterfragt.

Am weitesten hat sich 2009 Hans Georg Reuth vorgewagt, als er in seinem Buch „Hitlers Judenhass“ den späteren Diktator explizit als „Judenfreund“ bezeichnete, der in Wien ganz selbstverständlich mit Juden verkehrte und sie bewundert habe. Hitlers Antisemitismus sei erst 1919 als Reflex auf den Bolschewismus entstanden. Ein paar Jahre später sagte Wolfram Pyta in seiner Studie über den Selbstentwurf Hitlers als Feldherren- und Politikergenie, dass dieser vor dem Ersten Weltkrieg eine „Künstlerexistenz ohne antisemitische Neigungen“ geführt habe und „engeren und vertrauteren“ Kontakt zu Menschen jüdischer Religion hatte als bisher angenommen. Inzwischen hat sich die Annahme zum „Forschungsstand“ verfestigt. Von ihr geht auch Brendan Simms in seiner neuen Hitler-Biografie aus.

Die Fährte zu diesem Irrweg hat ausgerechnet Brigitte Hamann gelegt, die in ihrem klugen Buch über Hitlers Wien den ganzen trüben Kosmos von Ressentiments ausbreitete, der den späteren Diktator in der Metropole umgeben hat. Bei der Lektüre gewinnt man kaum den Eindruck, dass Hitler davon unbeeinflusst geblieben sei. Und doch stellte Hamann im letzten Teil des Buches wie beiläufig die Frage, ob Hitler in Wien zum Antisemiten geworden sein kann, und vermutet, dies sei wohl einer späteren Zeit vorbehalten gewesen.

Was bei Hamann aber noch mit einer Art Fragezeichen versehen ist, wurde von Nachfolgern als fixe Erkenntnis isoliert und ausgeweitet: Der Antisemitismus war einfach kein Thema für Hitler in Wien, und er war es auch nicht während des Ersten Weltkrieges. Außerdem kam Hitler ohne jede ideologische Orientierung aus dem Weltkrieg zurück, ehe 1919 geradezu blitzartig alle politischen Wahnideen auf einmal in ihn schossen.

Man fragt sich allerdings, wie Hitler in „Mein Kampf“ viele Seiten lang über Programme antisemitischer Parteien in Österreich, über Karl Lueger und Georg von Schönerer zu berichten vermochte, wenn ihn diese nicht schon vor 1914 intensiv beschäftigt hatten. Selbst wenn gern eingewendet wird, in „Mein Kampf“ sei alles nur erfunden, bleibt es seltsam, wieso er über Vorkriegspolitiker so genau Bescheid wusste, die in seinem Kreis außer ihm kaum einer kannte und die nach 1918 für Deutschland keine Bedeutung hatten – sehr wohl aber für seinen persönlichen politischen Werdegang. Man fragt sich weiter, wieso die verschiedenen österreichischen Spielarten des politischen Antisemitismus ausgerechnet ihn nicht beeinflusst haben sollten, der bereits in Linz damit konfrontiert worden war.

Keine schriftliche Äußerung

Das Hauptargument der Vertreter der „Judenfreund“-These lautet, dass es keine schriftliche Äußerung Hitlers gegen Juden aus der Zeit vor 1914 gäbe. Der früheste Hinweis auf seinen Antisemitismus fände sich erst in einem Brief aus dem Jahre 1919. Wer freilich nur persönlich unterfertigte Dokumente für Hitlers Werdegang gelten lässt, stößt mit der Analyse seiner Person rasch an Grenzen.

Und doch gibt es gerade in Sachen Quellen wichtige Neuigkeiten. Im Jänner dieses Jahres hat der Historiker Thomas Weber in einem Aufsatz für das „Journal of Holocaust Research“ auf ein Video-Interview mit Elisabeth Grünbauer aus dem Jahre 1994 aufmerksam gemacht, das bislang praktisch unbekannt war. Grünbauer war die Tochter des Ehepaares Popp, das Hitler in den Jahren 1913/14 in München ein Zimmer vermietet hatte. Grünbauer erinnert sich, dass sich Hitler in Gesprächen mit ihrem Vater immer wieder judenfeindlich geäußert habe: Die Juden würden die Leute ausbeuten, sie hätten längst Österreich-Ungarn in der Hand, und sie kontrollierten überall die Börse.

Mit den Aussagen von Grünbauer, so Weber, müsse man die Frage nach der Genese von Hitlers Antisemitismus völlig neu stellen. Dass Thomas Weber das tut, ist umso bemerkenswerter, als auch er bislang von Hitlers später antisemitischer „Erweckung“ ausgegangen war. Fast gleichzeitig mit Weber haben Hannes Leidinger und ich Hinweise vorgelegt, die vermuten lassen, dass Hitler im Jahre 1908 einer antisemitischen Vereinigung beigetreten ist.

Eine solche galt bisher als Erfindung seines Jugendfreundes August Kubizek. Doch es hat tatsächlich seit 1904 in Wien ein „Bund der Antisemiten“ existiert. Dieser wurde von Lueger-Anhängern gegründet und hatte sich zum Ziel gesetzt, den gegenüber Juden angeblich zu milde gewordenen Bürgermeister wieder an seine radikalen Anfänge zu erinnern. Der „Bund“ versuchte, die massenfähige Politik Luegers mit den Doktrinen der rassenantisemitischen Schönerer-Bewegung zu verschmelzen – und damit das zu verwirklichen, was Hitler später gedanklich als ideale politische Kombination ausbreiten sollte.

Die Kombination von Webers Fund und unseren Erkenntnissen wirft ein deutlich helleres Licht auf eine frühe politische Radikalisierung Hitlers. Hitler war bereits in seinen Wiener Jahren nicht nur ein beiläufiger, sondern ein proaktiver Antisemit, der es allerdings – wie viele andere – verstand, seine Überzeugung zu verbergen, wenn es im Geschäftsverkehr opportun war.

Bleiben zwei Fragen offen: Wie war die Fehldiagnose vom frühen „Judenfreund“ möglich? Und gibt es ein besonderes Motiv für diese? Fangen wir mit Letzterem an: Mit der Behauptung, Hitler wäre erst nach dem Ersten Weltkrieg zum Antisemiten geworden, konnte man jenen entgegentreten, die Deutschland schon seit der Kaiserzeit direkt auf das Dritte Reich zusteuern sahen – die These vom deutschen Sonderweg, der quasi von Bismarck direkt zu Hitler geführt habe. Zu Recht gilt diese These als überholt.

Auch gegen Daniel J. Goldhagen, der zur Erklärung der „willigen Vollstrecker“ ähnlich deterministisch argumentierte, meinte man sich wappnen zu können, wenn man Hitler als Ergebnis der Revolutionsjahre 1918/19 betrachtete. Allerdings hätte man immer schon einwerfen können, dass Hitler wichtige politische Impulse nicht aus dem Wilhelminischen, sondern aus dem österreichischen Kaiserreich bezogen hat: den radikalen Deutschnationalismus des „Grenzländers“, den Slawenhass – und einen besonders vielfältigen politischen Antisemitismus. Aus der Erkenntnis eines in Deutschland und Österreich-Ungarn verbreiteten Vorkriegsantisemitismus ergibt sich keine Pfadabhängigkeit für den Holocaust. Er ist keine hinreichende Begründung, aber er ist unbestreitbar eine notwendige Voraussetzung.

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