Gastkommentar

Europa muss geeint bleiben

(c) Peter Kufner
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30 Jahre. Unsere Dankbarkeit für die Deutsche Einheit ist untrennbar mit der Überzeugung verbunden, dass Deutschlands Zukunft nur in einem wirklich vereinten Europa liegen kann.

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Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört“ – jeder in Deutschland kennt dieses Zitat von Willy Brandt (1913–1992). Bis heute beziehen wir es ganz selbstverständlich auf die Wiedervereinigung der beiden von Mauer und Stacheldraht zerrissenen Teile unseres Landes vor 30 Jahren. Doch wer genauer hinschaut, dem können durchaus Zweifel kommen, ob Brandt dabei wirklich nur an Deutschland dachte. Denn bereits am Tag nach dem Mauerfall sprach er von „etwas Großem (. . .), dass die Teile Europas wieder zusammenwachsen“.

Deutschlands Einheit und die europäische Einigung – beides ist und bleibt untrennbar miteinander verbunden. In Leipzig, Berlin, Dresden und vielen anderen Orten Ostdeutschlands demonstrierten die Menschen zu Hunderttausenden für ihre Freiheit. Aber auch in Mittel- und Osteuropa gingen überall Frauen und Männer auf die Straßen und walzten durch ihren Freiheitswillen Mauern und Stacheldraht nieder. Wir werden das nicht vergessen. Und ohne das Vertrauen, das unsere europäischen Partner, die USA und die damalige Führung der Sowjetunion, in ein friedliches, europäisches Deutschland gesetzt haben, wäre die Wiedervereinigung politisch unmöglich gewesen.

So ist unsere Dankbarkeit für die Deutsche Einheit immer untrennbar mit der festen Überzeugung verbunden, dass Deutschlands Zukunft einzig und allein in einem wirklich vereinten Europa liegen kann. Dies ist die einzige endgültige Antwort auf die „deutsche Frage“, die Europa im vergangenen Jahrhundert auf so schmerzliche Weise immer wieder beschäftigt hat.

„Mehr Europa“ ist daher nie der Preis, den wir Deutschen für die Wiedervereinigung zahlen mussten – sondern eine weitere historische Errungenschaft. So ist es nur folgerichtig, die „Verwirklichung eines vereinten Europa“ in genau den Artikel unserer Verfassung zu schreiben, in dem einst das Streben nach der deutschen Wiedervereinigung stand.
Die großen Wegmarken seither sind bekannt: Die Schaffung der EU durch den Vertrag von Maastricht, die Wirtschafts- und Währungsunion, unser heutiger Lissabon-Vertrag und vor allem der Beitritt der Staaten in Mittel- und Osteuropa, deren Freiheitswille und Tatkraft zum entscheidenden Impuls für eine weitere europäische Einigung wurden – nicht nur als größerer Binnenmarkt, sondern auch als Wertegemeinschaft.

Neue Herausforderungen

30 Jahre nach der Wiedervereinigung haben sich die Herausforderungen gewandelt: Die Coronakrise tritt nicht einfach nur neben andere Krisen wie das europaweite Erstarken von Rechtsnationalen und Populisten, die zunehmende Rivalität zwischen den USA und China und die Gefahr von Desinformationen für unsere Demokratien. Die Pandemie verstärkt und verschärft sie. Wir müssen darauf eine echte europäische Antwort finden – so wie vor 30 Jahren. Und diese Antwort ist dieselbe wie nach der Wiedervereinigung unseres Kontinents: Wir brauchen Solidarität im Inneren, damit Europa seine Werte und Interessen nach außen souverän durchsetzen kann. Solidarität und Souveränität sind zwei Seiten einer Medaille.

Dass Europa im Innern solidarisch handeln kann, haben wir in den vergangenen Monaten gezeigt – zuletzt durch die Einigung auf ein historisch beispielloses Paket von Hilfsmaßnahmen, für die wir alle gemeinsam einstehen. Und wir wollen noch weiter gehen während unserer Ratspräsidentschaft und darüber hinaus: Bei der Stärkung ganz Europas, die sozial und innovativ sein muss. Beim Gestalten einer nachhaltigen europäischen Wirtschaft, mit ambitionierten Zielen für den Klima- und Umweltschutz. Und bei der Verabschiedung des nächsten Haushalts der EU – auf den Grundfesten der Werte unserer Gemeinschaft.

So entsteht ein Europa, das seine Werte verteidigen und seine Interessen in der Welt durchsetzen kann. Von der Beschaffung von Medikamenten und Impfstoffen über die Krisenbewältigung in seiner Nachbarschaft bis zur aktiveren Gestaltung des digitalen Wandels. Überall dort bedeutet „mehr Europa“ mehr Souveränität, mehr Handlungsfähigkeit und mehr Einfluss in der Welt von morgen.

Was wir dafür brauchen, ist die gleiche Zuversicht, die gleiche Tatkraft, mit denen die Menschen in Mittel- und Osteuropa vor 30 Jahren Einheit und Freiheit erkämpft haben. Darum wollen wir, dass die „Konferenz zur Zukunft Europas“ noch vor Ende unserer Ratspräsidentschaft ihre Arbeit aufnimmt. Damit die Bürgerinnen und Bürger Europas gemeinsam über Wege aus der Krise und über das Europa im Jahr 2025 oder 2030 beraten können – offen und auch kontrovers.

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