Morgenglosse

Erst Cold Turkey, dann The Silence of the Lambs

Ein ganzer Jahrgang Truthähne ist kurz vor Erfüllung ihrer Mission darauf und dran, zu groß und zu fett zu werden. Denn die Corona-Regeln verbieten Zusammenkünfte von mehr als sechs Personen.

Von Truthähnen, die für Weihnachten stimmen, spricht man im Englischen gerne, wenn man ein Verhalten gegen die eigenen Interessen bildhaft beschreiben will. Wenn die Briten einmal im Jahr im großen Familienkreis zusammenkommen, dann gehört der Turkey ebenso verpflichtend dazu wie der Christmas Pudding und zum Abschluss ein Glas Port. Schon Charles Dickens ließ den Geizkragen Ebenezer Scrooge mit einem fetten Truthahn Abbitte leisten.

Nicht dieses Jahr. Denn die Einschränkungen zur Eindämmung des Coronavirus verbieten Zusammenkünfte von mehr als sechs Personen. Von den neun Millionen Truthähnen, die sich Jahr vor Jahr auf der Weihnachtstafel der Briten im Dienst an der guten Sache opfern, wird die überwiegende Mehrheit aber für zehn Personen bestellt. Nun ist ein ganzer Jahrgang Truthähne kurz vor Erfüllung ihrer Mission darauf und dran, zu groß und zu fett zu werden.

Den armen Vögeln bleibt nichts erspart. „Wir müssen entscheiden, welche Größe die Leute wollen“, berichtet Nick Davis von seinem Zuchtbetrieb in Südwales. Am beliebtesten sei bei den Kunden bisher ein Truthahn mit rund sechs Kilo gewesen. Das ist nun deutlich zu viel. Entweder die ohnehin schwer übergewichtigen Briten werden noch fetter, oder: „Wir können die Tiere nur auf Diät setzen oder früher schlachten“, meint Davis. 

Beides sind keine schönen Aussichten. Und zudem keine Alternative für die zunehmen qualitätsbewusste Kundschaft. „Man muss einen Vogel zur vollen Reife bringen“, sagt Lynsey Coughlan von dem Nobelzüchter Ginger Pig. Für einen Kilopreis von 16,50 Pfund ist das wohl auch, was die verwöhnte Klientel sich erwarten darf. „Nur so erhält man den vollen Geschmack.“ Frühzeitiges Schlachten und Einfrieren, wie es viele Massenproduzenten nun offenbar planen, sei „absolut keine Option“.

So werden viel Briten dieses Jahr wohl an zwei Tagen an ihrem Truthahn knabbern, kiefeln und kauen. Ob großer oder kleiner Vogel, an der Nachfrage wird es jedenfalls nicht fehlen: Fünf Millionen Briten werden heuer zu Weihnachten nicht in den Urlaub außer Landes fliehen können. Doch wer keinen Truthahn mehr bekommt, braucht sich auch nicht zu sorgen: Bis zu zwei Millionen Lämmer stehen im Fall des Scheiterns der Verhandlungen zwischen London und Brüssel ohne Abnehmer da. Erst Cold Turkey, dann The Silence of the Lambs: Diese Weihnachten werden in Großbritannien nicht gut ausgehen.

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