Nach der Scheidung: Zwischen zwei Stühlen

Nach Scheidung Zwischen zwei
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Frühes Erwachsenwerden und die Sorge, nicht ganz unverletzt davon-gekommen zu sein: Scheidungskinder sind gesellschaftliche Dauerrealität. Ob ihre emotionalen Wunden verheilen, hängt stark von den Eltern ab.

Was dich nicht umbringt, macht dich stärker.“ Taras Meinung zum Thema Scheidungskinder ist so klar, wie ihre Worte hart sind: Wer einmal im Leben Schiffbruch erlitten hat, der navigiert sein neues Boot künftig weitaus geschickter durch raue Wetterlagen. Und die gäbe es nun mal. Punkt.

Dass der Punkt zum Beistrich werden muss und auf ihn noch viele weitere folgen, um eine Scheidungsgeschichte vollständig zu erzählen – um das zu erfahren, muss man der 18-jährige Maturantin nach manchen ihrer mutigen Sätze noch ein wenig Zeit lassen: Dann erzählt Tara doch, wie sehr sie das Alleinsein schmerzte, als die Mutter sie mit 15 in der Wohnung zurückließ. Sie zog zu ihrem Freund „um die Ecke“. Rein geografisch nicht weit, emotional schien die Distanz jedoch plötzlich schwer überwindbar, der Vater zu beschäftigt mit Versuchen, die Liebe der Mutter zurückzugewinnen.


Hohes Scheidungsrisiko. Fünf Jahre hat es gedauert, bis Tara ihre Nebenrolle im „großen Drama“ gegen eine Hauptrolle im eigenen Leben eingetauscht hat, ihr Gefühlschaos sich zu einem „Drüber-hinweg“-Sein ordnete. Ein langer Weg für ein kurzes Teenager-Leben – und ein Weg, zu dem es aus gesellschaftlicher Sicht immer mehr Parallelen gibt: Das Risiko eines 2010 geborenen Kindes, bis zu seiner Volljährigkeit von der Scheidung seiner Eltern betroffen zu sein, liegt bei rund 20 Prozent, 1985 waren es noch 14 Prozent. Wer diese Steigerung als gering im Vergleich zum Anwachsen der Scheidungsrate empfindet (seit 2007 ist sie zwar gesunken, zwischen 1985 und 2009 aber von 30 auf 46 Prozent gestiegen), muss kinderlose Ehen mitbedenken: Sie dämpfen das generelle „Scheidungskindrisiko“, weil sie keine Kinder betreffen. Berücksichtigt man auch potenzielle „Trennungskinder“, deren Eltern nicht verheiratet sind, fällt das Risiko eines Kindes, das elterliche Beziehungsende zu erleben, höher aus.

Keine Frage – das Zahlenmaterial spricht für sich: Mehr als 20.000 Kinder waren 2009 österreichweit von einer Scheidung betroffen, ein Drittel davon Minderjährige. Das „Scheidungskind“ ist längst gesellschaftliche Dauerrealität, im Licht der immer wieder aufflammenden Obsorgedebatte wohl auch eine politische. Aber macht das Bewusstsein, eines von vielen zu sein, die Verarbeitung für Kinder leichter? „Natürlich hat das eine große Wirkung, wenn Kinder merken, dass sie nicht allein sind – aber damit sie sich austauschen, muss man erst den Rahmen dafür schaffen, so einfach ist das nicht“, sagt die Kinder- und Jugendpsychologin Sabine Völkl-Kernstock. Sie erlebt in ihrem Arbeitsalltag oft auch das Gegenteil eines offenen Umgangs mit einer Scheidung – und bezeichnet ihre Perspektive gleichzeitig als eingeschränkt: „Ich habe mit Kindern zu tun, die eine Scheidung problematisch erleben, sonst wären sie nicht bei mir – manche genieren sich richtig, andere überspielen das Thema mit betonter Lässigkeit, dieses Muster hat sich seit 1995 nicht verändert.“


Positive Seiten. Hinzu kommt, dass der Schmerz für viele Kinder auch positive Aspekte einer Scheidung überdeckt: weniger Konflikte, ein zweites Kinderzimmer, eine durch neue Partner erweiterte Familie, bemühtere Freizeitgestaltung durch den Elternteil, mit dem das Kind nicht mehr lebt. „Wenn eine Scheidung gut ausgeht, hat das auch positive Seiten“, so Völkl-Kernstock, „leider sehen manche Kinder nur, dass der Vater ausgezogen ist, obwohl er sich manchmal mehr kümmert.“ Was psychische Langzeitfolgen betrifft, relativiert die Psychologin die Brandmarke Scheidungskind – zumindest großteils: „Studien belegen, dass Kinder, die eine Scheidung erleben, später signifikant öfter geschieden werden, psychische Schädigungen trägt aber nur ein geringer Prozentsatz davon.“

Was genau die Scheidung seiner Eltern vor 14 Jahren in seiner Psyche hinterlassen hat, wagt Alexander nicht zu beurteilen: „Ich werde nie wissen, wie es ist, mit einem Vater aufgewachsen zu sein“, so der 18-jährige Wiener AHS-Schüler, „gut geht es mir damit nicht, aber es ist besser, als wenn meine Eltern noch streiten würden.“ Obwohl er ohne Vater, so sagt er, „frühe Selbstständigkeit und improvisieren, wo der Vater gefehlt hat“ gelernt habe, erzählt er auch von Schattenseiten: Als sein Vater auszog, habe ihm die Mutter erklärt, er sei „auf Urlaub“, die wahre Lage blieb lange im Dunkeln.


Deutliche Sprache. Dabei ist genau jene Klarheit, die Alexander vermisst hat, ein Grundpfeiler eines für Kinder erträglichen Trennungsszenarios: Die deutliche, an die Sprache des Kindesalters angepasste Botschaft „Wir trennen uns“ zählt ebenso dazu, wie das Erzählen einer gemeinsamen Version, anstatt das Kind mit unterschiedlichen Sichtweisen zu belasten. Dass klare Worte für Kinder gerade dann zählen, wenn sie für Eltern am schwierigsten zu formulieren sind, liegt an der Macht kindlicher Fantasie: „Kinder spüren atmosphärisch viel mehr, als man denkt – und entwickeln Fantasien, die oft ärger sind als die Realität, oder glauben, sie sind schuld“, so Psychologin Daniela Gehringer-Braun, die eine auf Kinder spezialisierte Praxis führt. Gefühle ansprechen, aber brisante Details vermeiden, so der Leitsatz.

Besonders für jüngere Kinder ist auch die Anwesenheit beider Elternteile beim Verlautbaren der Trennung wichtig – Stichwort Sicherheitsgefühl: „So signalisiert man, dass es Mama und Papa nach wie vor gibt, das zählt immens“, so Gehringer-Braun. Ob ein Kind schließlich, so wie Tara, gestärkt aus einer Scheidung hervorgehen kann, macht die Psychologin von vorhandenen emotionalen Ressourcen abhängig: Konfliktbewältigung, Kenntnis der eigenen Vorzüge – all das gelte es in der Scheidungszeit zu stärken.

Bleibt die Frage, ob sich all die Strategien in der Hitze des Scheidungsgefechts umsetzen lassen – letztlich ist das Zerschellen eines Lebenskonzepts auch für Eltern eine emotionale Zerreißprobe. So sehr, dass Psychologen immer wieder den positiven Einfluss eines „neutralen Dritten“ betonen, eines Therapeuten oder Sozialarbeiters etwa – ob es diesen gibt, ist jedoch oft eine finanzielle Frage. Laut der Wiener Jugendanwältin Monika Pinterits enden ca. zehn Prozent der Scheidungen im Obsorgestreit, wenn nicht rechtzeitig deeskaliert wird. Außergerichtliche Schlichtungsstellen existieren noch nicht – mit Spannung wird diesbezüglich das erste Treffen einer auf Familienrecht fokussierten Arbeitsgruppe im Justizministerium erwartet (20. September).


Obsorge. Im Sommer 2010 dominierte bisher das Thema „automatische gemeinsame Obsorge“ die Debatte. Nach Einführung einer solchen wären nach der Scheidung ohne zusätzliche Vereinbarung beide Eltern obsorgeberechtigt. Eine eigene Erklärung vor dem Gericht fiele weg – ein möglicher Vorteil, weil die Eltern vom Zwang, in der hitzigen Scheidungsphase gemeinsam zu entscheiden, befreit wären. Für Doris Täubel-Weinreich, Vorsitzende der Fachgruppe für Familienrecht bei der Richtervereinigung, wäre dann allerdings die Rechtsprechung der gesellschaftlichen Entwicklung voraus: „Frauen erhalten oft das Obsorgerecht, weil sie mehr Erziehungsarbeit leisten, da haben wir immer noch traditionelle Rollenbilder, obwohl der Bewusstseinswandel der Väter voll im Gang ist; aber Gesetze haben auch etwas mit Bewusstseinsschaffung zu tun.“ Vielleicht, so ihr Gedanke, führe ein neues Gesetz ja zu mehr Verantwortungsbewusstsein der Väter. Ungefähr bei der Hälfte der Scheidungen übernehmen Eltern derzeit gemeinsam die Obsorge.

An die „Wunderwaffe“ einer automatischen gemeinsamen Obsorge glaubt Täubel-Weinreich nicht: „Es gibt genug Paare, die nicht mal zu einem Termin bei mir gemeinsam erscheinen wollen, für die brauchen wir Schlichtungsstellen, in denen Dinge geklärt werden, bevor rechtlich vorgegangen wird und außerdem eine Reform des Besuchsrechts.“ Jugendanwältin Monika Pinterits plädiert zudem für etappenweise Entscheidungen, um vorschnelle Beschlüsse zu vermeiden. Pinterits: „Das einzig Positive an der Obsorgedebatte ist, dass alles auf den Tisch kommt – ich hoffe, in der Arbeitsgruppe wird ab Herbst wirklich gearbeitet.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.08.2010)

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