Am Herd

Sehnsucht Zugreise

Ich möchte wieder mit dem Zug verreisen.
Ich möchte wieder mit dem Zug verreisen.(c) imago images/Imaginechina-Tuchong (via www.imago-images.de)
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Ich möchte wieder mit dem Zug verreisen. Ich möchte aus dem Fenster schauen und die Welt an mir vorbeiziehen lassen, so schnell, dass meine Gedanken langsam werden.

Es gab eine Zeit, da war Vorarlberg weit, weit weg. Fast zehn Stunden entfernt von Wien, zumindest mit dem Zug. Ich fuhr diese Strecke am liebsten in der Nacht. Da war mehr Ruhe. Mehr Platz. Ich hoffte dann, dass die Abteile nicht ausgebucht wären, dass ich ein, zwei Gleichgesinnte finden würde, wir würden die blauen Sessel ausziehen, uns ausstrecken, so gut es eben ging, die Mäntel enger um uns ziehen, einschlafen und erst aufwachen, wenn das Licht durch die Ritzen der Rollos dringen würde, unter uns das gleichförmige Rattern der Räder.

Ich liebe dieses Rattern. Immer noch. Ob Tag oder Nacht. Draußen die roten Dächer, dunklen Wälder, Böschungen und Autobahnen, wie hingetupft; an den Schrebergärten und Teppichklopfstangen der Vororte entlang fährt der Zug in die nächste Stadt, und ich lasse die Welt an mir vorbeiziehen, so schnell, dass meine Gedanken ganz langsam werden und ruhig. Ich erinnere mich an die Zeit, als die Kinder noch klein waren, an die vielen Stunden im Spieleabteil des Transalpin, immer war es schmuddelig und roch nach Bananen, im Hintergrund lief in Endlosschleife ein Zeichentrickfilm, aber Hannah und Marlene fanden dort andere Kinder und hörten auf zu quengeln. Ich erinnere mich, wie Marlene auf dem Weg nach Caorle an meinem Fußende schlief, im Liegewagen, meine Beine dienten als Barriere, damit sie nicht runterpurzeln konnte.


Ein Ruck. Ich will wieder mit dem Nachtzug verreisen, aber ich traue mich nicht, traue den Klimaanlagen nicht. Ich will auf dem Hauptbahnhof ein Heft mit Sudokus kaufen und den Kindern einen Mickey-Mouse-Band, weil das immer so war, ich will, dass mein Mann die Trolleys unter die Sitze stopft, wir alle mit unseren Leintüchern kämpfen, bei denen man nie weiß, wo oben und unten ist. „Bitte“, sage ich dann zum Schaffner: „Könnten wir noch zwei Decken haben?“ Es kann kalt werden in der Nacht. Und dann bestellen wir Frühstück, einmal Kaffee, zweimal Tee, einmal Kakao.

Ich will, dass unser aufgeregtes Geplauder langsam verstummt und einer nach dem anderen einschläft. Und ja, ich will sogar wach werden mitten in der Nacht, weil der Zug in irgendeinem Bahnhof länger verweilt und das Wiegenlied der Räder verstummt ist, und ich warte dann, bis ein Ruck durch den Waggon geht und wir die Reise fortsetzen können. Und ja, das fühlt sich geborgen an.

Am Morgen auf dem Weg zur Toilette der erste Blick aus dem Fenster, Häuser, deren Weiß im frühen Sonnenlicht erstrahlt, Gärten und Felder liegen noch verlassen da, hier und da wartet ein einsames Auto vor dem Bahnübergang, und ich weiß, bald kommen wir an.

Ganz bald.

bettina.eibel-steiner@diepresse.com

www.diepresse.com/amherd

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.12.2020)

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