Vom Gehen im Nichts

Gehen Nichts
Gehen Nichts(c) Martin Leibenfrost
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Auf einer Länge von nur weni- gen hundert Metern berührt die Donau den Staat Molda- wien, das ärmste und vielleicht verrufenste Land Europas. Diese wenigen hundert Meter versuchte ich abzuschreiten. Mein Tag an der moldawischen Donau.

Mein Tagtraum von der moldawischen Donau begann damit, dass mich Theaterleute um ei- nen Donau-Essay baten. Muss nicht jeder an Mittel-Ost-Europa kiefelnde Autor mindestens einen Donau-Essay vorgelegt haben, fragte ich mich und sagte zu. An den Theaterleuten gefiel mir ihr Sinn für Gerechtigkeit. Sie hatten nicht nur die bekannten Donaustaaten in ihr Projekt „Donaudrama" aufgenommen, sondern auch das ärmste und vielleicht verrufenste Land Europas, das die Donau an seiner winzigen Südspitze auf wenigen hundert Metern berührt. Ich sagte den Theaterleuten, dass ich für das angebotene Honorar nicht in alle Donaustaaten fahren würde, an die moldawische Donau aber um jeden Preis.

Am Anfang dachte ich, es gehört sich, der Essay-Leserschaft einen persönlichen Donaubezug darzulegen. Immerhin war ich nur zwölf Kilometer von der Donau aufgewachsen. Beim Erinnern kam mir vor, dass unsere niederösterreichische Donau nichts für mich bedeutet hatte. So wäre es mir nie in den Sinn gekommen, der Donau zuliebe an die Donau zu fahren und in die Donau zu schauen. Mir kam auch vor, dass meine ganze Familie den Fluss äußerst selten frequentierte. Vielleicht lag das daran, dass sich zwi schen die Donau und uns die „Strengberge" schoben, keineswegs ein Gebirge, bloß ein lang gezogener Hügelrücken von abweisender himmelausgesetzter Strenge. Vielleicht lag es am Widerwillen in Mamas Stimme, wenn sie sagte: „Da müssen wir über die Staumauer." Die Staumauer war schmal, Mama konnte nicht schwimmen.
Als ich über die Bedeutung des Schicksalsstroms für meine Familie sinnierte, fielen mir die möglicherweise unzureichend verzollten Zigaretten ein, die mein Bruder über zwischengeschaltete Versorger von serbischen Schiffen bezog, oder der unverhohlene Respekt, mit dem Opa von den „tschechischen Wildsauen" erzählte, die sich durch das karge Hochland des Waldviertels schlugen, um durch die Donau zu schwimmen und Schweinereien auf den Feldern unseres fruchtbaren Südufers anzurichten.
Mir fiel noch ein, dass wir der Donau im Dialekt ganz unbewusst eine richtungsweisende Rolle zugestanden. Die Redensart, dass wir „nach Linz hinauf" und „nach Wien hinunter" fuhren, entsprach genau der Fließrichtung. Es entbehrte auch nicht einer gewissen visuellen Logik, dass sich das weite Deutschland „draußen" befand und das enge Alpenland „drinnen". Ich erinnerte mich an die amüsierte Verwunderung, mit der Papa bei Waldviertler Freunden nachfragte, warum sie denn in ihrem Dialekt, wenn sie den Weg der tschechischen Wildsauen über die Donau nahmen, „nach Amstetten dauni" fuhren. Das unübersetzbare Wörtchen „dauni" bezeichnet eine seitliche Ausscherbewegung. Papa fragte immer wieder nach. Die Waldviertler hatten keine Antwort. Und das war schon alles. Mehr hatte ich nicht aufzubieten.


Ich rechnete mir aus, dass ich 35 meiner 37 Lebensjahre nicht weiter als 15 Kilometer von der Donau verbracht habe. Mit meinem gegenwärtigen Wohnort Devínska Nová Ves bin ich auf vier Kilometer an sie herangerückt. Ich rechnete mir vor, dass ich schon ein Dutzend an der Donau handelnde Ge schichten geschrieben und weitere ungeschrie bene erlebt habe. Das 150 Millionen Kubikmeter schwere Weltwunder der umgeleiteten Donau vor Gabcikovo oder das Froschschenkel-Dinner bei den Raskolniki im „ukrainischen Venedig" Vilkovo oder der schwärmerisch veranlagte serbische Koch, der Tag für Tag am Wiener „Entlastungsgerinne" baden ging und jedem seinen Ausweis zeigte, der nicht glaubte, dass er Slobodan Milosevic hieß. Solches unzusammenhängende Zeug, in großer Stückzahl. - Ratlosigkeit befiel mich. Die Donau durchfließt und berührt zehn Staaten, für die Abermillionen Anrainer ist das wahrscheinlich nichts Besonderes. War ich schon auf die Essenz gestoßen? Würde mein Donau-Essay von allem Möglichen handeln? Oder - anders gesagt - von nichts? Ich las die Szenen des „Donaudramas". Auf Einladung der „Wiener Wortstätten" hatte jeweils ein Dramatiker aus jedem Donauland eine Szene geschrieben, das ganze Drama wird auf dem internationalen Theaterfestival im slowakischen Nitra aufgeführt.


Kerstin Specht aus Deutschland lässt ihre Figur „A" sagen: „Immer wenn ich in den Fluss schau, denk ich, wenn ich da jeden Tag reinspuck, dann kommt's irgendwann bei ihm an, meine ganze Verachtung kommt bei ihm an." Robert Woelfl aus Österreich und Ugljesa Sajtinac aus Serbien erzählen von ei- nem Serben, der „unter Wasser geht". Anna Grusková aus der Slowakei schreibt über ei- nen schönen Pressburger Ballsall, der wie in der Wirklichkeit für Luxuswohnungen abgerissen wird. In Ákos Nemeths ungarischer Szene sagt ein Mann: „Ich habe keinen Aufstand gemacht. Ich habe nur die Tasse Kaffee in die Donau geworfen. Habe ich damit jemandem geschadet?" Bei Nina Mitrović aus Kroatien weiß ein abgerissener Typ nicht, ob sein Enkelkind ein Bub oder ein Mädchen ist, bei Peca Stefan befördern zwei rumänische Schwestern die Asche ihres Vaters aus dem Handschuhfach in die Donau. In Jurij Dačevs bulgarischer Szene nennt einer den Fluss „schmutzig und geizig. Früher konnte man noch etwas aus ihm herausholen. Einen Fisch fangen, oder etwas anderes. Jetzt nur noch alte Reifen. Scheiß Fluss!" Bei Olexandr Irwanez schnüffelt ein Hund der ukrainischen Grenzwache nach Ideen, „die wir hier nicht haben dürfen. Ich weiß aber nicht, wie solche Ideen riechen." Bei Pavel Paduraru aus Moldawien bietet eine Ex-Prostituierte ihre Niere feil und beschreibt den etwaigen Einbau ihrer Niere in einen europäischen Körper als Beispiel „europäischer Integration".

Ich träumte davon, an Bord eines moldawischen Schiffes an der moldawischen Donau einzulaufen. Der Traum war realistisch, in der vorigen Saison war ein moldawisches Schiff namens „Princess Elena" von Giurgiuleşti über das Schwarze Meer nach Istanbul und zurück gefahren. Ich rief dort an. Die Frau schloss nicht aus, dass die „Princess Elena" in der schönen Jahreszeit wie-
der ablegen würde und legte auf. Ich buchte einen Flug nach Istanbul. Später rief ich wieder an. Niemand konnte mir sagen, ob das Schiff wieder fahren würde.


Dass die moldawische Donau so ungreifbar war, zog mich an. Aus allen Quellen ging hervor, dass dort Moldawiens einziger Donauhafen entstand. Aber schon über die Länge des moldawischen Donauzugangs war keine Klarheit zu erzielen. Die deutsche Wikipedia behauptete, Moldawiens Donauzugang sei 600 Meter lang, die englische, russische, ukrainische und polnische Wikipedia gaben 480 Meter an. Die rumänische, französische, portugiesische und italienische Wikipedia hielten sich bedeckt. Die norwegische Wikipedia wusste von ursprünglich 380 Metern zu berichten, welche durch eine 1999 geschlossene Vereinbarung auf 590 Meter aufgestockt worden seien. Die ukrainische Wikipedia behauptete, Moldawien habe seine Donau von der Ukraine geschenkt bekommen. Ukrainische Zeitungen schrieben, die moldawisch gewordene Donau sei gegen ein moldawisch kontrolliertes Straßenstück im Dnjestr-Schilf eingetauscht worden, die Moldawier hätten ihren Teil der Tauschhandlung aber nicht umgesetzt. War die moldawische Donau Diebesgut? Jedenfalls schien sie mir kurz genug, um sie erschöpfend abzuschreiten.

Ein Ort, der einen ganzen Essay verdienen würde, ist das bulgarische Donaustädtchen Belene. Dass ich diesen auch innerhalb Bulgariens abgelegenen Ort entdeckt habe, macht mich ein bisschen stolz. Belene lässt sich als burleske Komödie oder als Horrorthriller erzählen.
Wer es lustig will, findet in Belene die bulgarische Dublette einer alten italienischen Geschichte - der von Don Camillo und Peppone. Der kommunistische Bürgermeister sieht tatsächlich wie Peppone aus, sogar der Schnauzer stimmt, und der Pfarrer ist tatsächlich ein listiger Italiener. Belene ist eine römisch-katholische Enklave in einem orthodoxen Meer, Belene ist arm und seine Sehnsucht richtet sich auf ein halb fertiges Atomkraftwerk, das seit 1991 der Fertigstellung harrt. Das einzige Hotel der Stadt heißt „Energy".
Wer es schrecklich will, der findet auf der vor Belene liegenden Donauinsel den wissenschaftlich noch kaum erforschten bulgarischen GULag. Die Ermordeten seien an Schweine verfüttert worden, lautet die bekannteste Erzählung. Ein Überlebender erzählte, er habe „ein halbes Jahr in einem Loch unter der Erde verbracht". Laut Dorfhistoriker Gospodinov wurden Nebeninseln noch bis in die Achtzigerjahre als Speziallager genutzt. So soll es ab 1968 eine Insel für langhaarige „Hooligans" und Sympathisanten des Prager Frühlings gegeben haben, oder ei- ne Fraueninsel, beispielsweise für Trägerinnen von Miniröcken, oder ab 1986 eine Insel für bulgarische Türken, die sich der Bulgarisierung ihrer Namen widersetzten.


Nun macht Belene auf sanften Tourismus. Die Inseln wurden zum Naturpark erklärt, die Weltbank hat eine moderne Naturparkzentrale in die Stadt gestellt. Dort gibt es Hüte, Kappen, Shirts und Sticker mit lustigen Graustörchen drauf zu kaufen. Nur dass kein noch so sanfter Tourist die Insel betreten darf. Auf ihr befindet sich immer noch ein Gefängnis. Die Insel ist gesperrt.

Ich musste einsehen, dass die „Princess Elena" nicht fahren würde, und nahm den Bus von der moldawischen Hauptstadt Kischinau nach Giurgiuleşti. Der Bus durchfuhr das Dorf Giurgiulesti und bog auf eine staubige Landstraße ab. Zwei Tankstellen, dann noch zwei einstöckige Gebäude mit Café-Läden, ein Schlagbaum, Ende. Der Bus fuhr nicht weiter, ich und noch ein letzter Fahrgast stiegen aus.
Links musste die ukrainische, rechts die rumänische, vorne die moldawische Donau sein. Der Hang war abfallend. Ich sah einen breiten Fluss. Ich wandte mich an den nächstbesten Schlagbaum und trug der Uniformierten mein Anliegen vor: „Ich möchte die moldawische Donau sehen." Sie runzelte die Stirn, überprüfte meine Papiere, rief einen Vorgesetzten an. Ich wurde abgeholt, ein paar hundert Meter die Straße hinunter geleitet, zu einer Art Grenzübergang. Dort wurde ich anderen Beamten übergeben. Einer geleitete mich über Bahngleise und abschüssiges Gelände. Man reagierte durchaus liebenswürdig auf meinen Wunsch und übergab mich jeweils einem weiteren Vorgesetzten. Der Vorgang wiederholte sich etwa siebenmal. Ich drang dermaßen bis in das kleine Abfertigungsgebäude des Passagierhafens vor. Es ließ sich alles gut an, mein Begehren zauberte ein weiches Lächeln auf das harte Antlitz der Diensthabenden unten. Dann war plötzlich Schluss, ein weiterer Vorgesetzter ließ mir sein „Njet" ausrichten. Ich versuchte mir den Anblick des Flusses gut einzuprägen, da begriff ich endlich, dass es sich um den rumänisch-moldawischen Grenzfluss Pruth handelte und dass die „Princess Elena" auch vom Pruth abgelegt hatte. Ich befand mich am Grenzübergang zu Rumänien. Die moldawischen Grenzer hatten selbst keinen Zugang zur Donau und waren wohl zu stolz, mir das zu sagen.
Ich wurde an einen anderen Schlagbaum geschickt, zum „Free Economic Port", weiter oben. Ich wanderte dorthin. Ein hochprofessioneller, vier Meter hoher Metallzaun mit Stacheldrahtaufsatz hegte ein Gelände ein, das weiter hinten noch einmal von einer strahlend weißen Mauer umschlossen war. Dahinter strahlten blitzsaubere Gebäude und silbrig schimmernde Korn speicher. Diese außerirdisch perfekte Anlage verdeckte den Blick auf die moldawische Donau.
Ich ging zum Schlagbaum jenes „Free Economic Port". Der Wächter war ein großer geschorener Bär und ließ mich nicht ein. „Der Direktor ist sowieso auch ein Ausländer. Er wohnt wie die ganze Führung in Rumänien drüben, wegen der besseren Bedingungen. Rufen Sie seine Sekretärin an!" Weder die Sekretärin noch der englische Direktor stellten mir fernmündlich die Erlaubnis zum Betreten des Freihafens auf.


Ich wanderte um den Stacheldraht herum, stieß nur auf die Wachtürme der ukrainischen Grenze und näherte mich lieber ei- ner Gruppe von Bauern. Sie lagerten müßig auf einem weiten Feld, ein kleines Mädchen saß an einen sitzenden Mann gelehnt. Eine Schafherde, es waren schwarze Schafe drunter, wurde gerade über die Wiese getrieben. Die Bauern von Giurgiuleşti fanden es gut, dass Moldawien nun einen Hafen habe, jetzt könnten die Ukrainer nicht mehr für die moldawische Fracht kassieren. Über den holländisch geführten Freihafen sagten sie: „Die betrügen uns." Aus den versprochenen Arbeitsplätzen sei nichts geworden.
Ich wanderte den ganzen Tag herum und hörte mir die Geschichten von Giurgiuleşti an, düstere Geschichten. „Uns braucht niemand", „wir sind bloß billige Arbeitskraft", „wir sind Sklavinnen", „wir sprechen das reinste Rumänisch Moldawiens", „Rumänien ist uns um 50 Jahre voraus . . ." Eine Frau erzählte, dass der Zugang zur Donau unter der Sowjetmacht verboten war, wegen der nahen Grenze zu Rumänien, aber nach der moldawischen Unabhängigkeit habe sie in der moldawischen Donau gebadet. Seit dem Bau des Freihafens war das wieder verboten. Eine Hochzeitsgesellschaft zog durchs Dorf, ließ mich aus einer Karaffe selbst gemachten Rotwein der Sorte Saperavi trinken. Der Wein war nicht gut, die Leute waren aber herzlich.
Als ich wieder am Schlagbaum des Freihafens vorbeikam, winkte mich der Wächter zu sich. Er war plötzlich sehr nett, er wollte reden. Über seine Arbeitgeber sagte er: „Moldawier sind für sie Menschen zweiter Klasse." Er sagte, er verdiene im Freihafen 150 Dollar, das reiche gerade für seine Fixkosten, er müsse also während der Arbeitszeit überlegen, wie er mit einem zweiten und einem dritten Job an Geld komme. „Meine zweijährige Tochter wird eine Schönheit", sagte er mit aufgerissenen Augen. Er formte eine Hände zu einer überdeutlichen Geste, zu großen Frauenbrüsten. „Sie wird Kleidung brauchen." Er habe deswegen dafür gesorgt, dass seine Tochter im benachbarten rumänischen Galati auf die Welt kam, „so wird sie mit 14 den rumänischen Pass kriegen können. Ich denke nur mehr an meine Kinder. Die Kinder müssen weg hier."
Der Wächter war früher Polizist gewesen und erklärte mir an einem Beispiel die moldawische Korruption: „Ich hatte bei der Polizei nicht einmal Benzin fürs Polizeiauto. Du fängst also an, dass du Strafen ohne Strafzettel kassierst oder eine Strafe gegen Schmiergeld erlässt. Nur damit du das Polizeiauto betanken kannst. Dann muss der Chef auch noch tanken, und dann hat der Chef auch noch eine Familie zu ernähren. So kommen die Leute auf schlechte Gedanken, obwohl sie das eigentlich gar nicht wollen."
Der Wächter hatte sich in Fahrt geredet, da kam auf einem schäbigen rostzerfressenen Fahrrad ein Dörfler herbei. Seine Kleidung konnte man nicht anders denn als Lumpen bezeichnen. Er war aber kein Bettler, sondern einer von de nen, die der Freihafen tageweise für die Korn verladung anheuert. Er hatte, was mir fehlte, eine Genehmigung zum Betreten der moldawi schen Donau. Ich sah diesem kaputtgeschun denen Moldawier nach, wie er rostächzend in die keimfreie Plastik-Logistik-Welt des „Free Economic Port" einrollte. Das wird das Bild in meinem Kopf von der moldawischen Donau gewesen sein.

Ich setzte mich in ein Grenzcafé, um die Beobachtungen des Tages zu Papier zu bringen. Wie schon früher am Tag hatte sich die Dorfjugend an einer Holztafel versammelt, alles junge Männer, kurzhaarig bis geschoren, sieben oder acht. Sie sprachen rumänisch, manchmal war ein russisches Schimpfwort eingestreut. Man beachtete mich nicht.


Das änderte sich, als ein junger Einheimischer eintrat, wie so viele in Giurgiuleşti ein Migrant, gerade aus Bukarest eingefahren. Er war in Begleitung einer derb-sinnlichen Frau, deren üppige Rundungen in einen engen grauen Adidas gezwängt waren. Er sah gut aus, schneidig. Ich saß allein an meinem Tisch und schrieb. Das gefiel ihm nicht, von Anfang an gefiel ihm das nicht.
Er rief mir zu, dass ich ein Agent sei. Ich versicherte ihn des Gegenteils. Er glaubte mir nicht. Ich zeigte ihm meinen Presseausweis. Er nahm den Ausweis an sich, gab ihn nicht zurück, kehrte an seinen Tisch zurück und verlangte 100 Euro für die Herausgabe. Er ließ provozierende Statements auf mich los, äußerte sich abwertend über die Barfrau und bot sie mir zum Kaufsex in seinem Jacuzzi an. Die Barfrau verschwand in der Küche.
Innerhalb kurzer Zeit versammelte sich die anwesende Dorfjugend am Tisch des schneidigen Migranten, oder sie blieben sitzen und drehten sich zu ihm hin. Sie quittierten jede seiner Anzüglichkeiten mit Lachen, keiner machte eine Ausnahme. Ich antwortete knapp und neutral. Der Wortführer sprach mit ruhiger Stimme, seine Hände verrieten aber Unruhe, fortwährend zerfetzten sie den Plastikbecher seines ausgetrunkenen Kaffees in kleine Stücke. Die Erwartung einer Aggression lag in der Luft.
In der unglücklichen Absicht, mir zu Hilfe zu kommen, setzte sich ein mittelalter Säufer mit Baseballmütze zu mir. Er bot mir von seinem Wodka an und begann, von seiner Wertschätzung für mich zu sprechen. Der Wortführer herrschte ihn an, das Maul zu halten. Der Säufer brabbelte weiter, von der Kameradschaft im Afghanistankrieg, anderes Unzusammenhängendes. Plötzlich sprang der schneidige Rückkehrer aus Bukarest auf, rannte an meinen Tisch, riss dem Säufer die Mütze vom Kopf und schlug ihm damit ins Gesicht. Der Sohn des Geschlagenen saß dabei, er war einer von den Jugendlichen. Er sah zu, wie sein Vater eine Züchtigung nach der anderen empfing. Ich starrte den Sohn an, irgendeine Reaktion auf die Demütigung des Vaters musste doch zu erkennen sein. Nichts dergleichen, der Sohn sah gleichgültig und unbewegt zu. Er sagte nichts und tat nichts.


Kurz nach diesem Einblick in die Sozialordnung von Giurgiuleşti trat Entspannung ein, ein noch coolerer Migrant betrat das Café. Die Blicke der Feiglinge hingen nicht mehr an dem einen. Die derb-sinnliche Adidas-Frau gab mir den Ausweis zurück, ich verzog mich und ging ins Bett. Ich habe gelernt, dass die moldawische Donau eine niederländische Firma ist. Und damit hätte ich auch so eine Art Donau-Essay verfasst. ■

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