Replik auf Wolfgang Freitag

Wie viel wiegt Erinnerung?

Das Denkmal zu Ehren der Soldaten der Sowjetarmee auf einer Aufnahme um 1955.
Das Denkmal zu Ehren der Soldaten der Sowjetarmee auf einer Aufnahme um 1955. Votava / Imagno / picturedesk.com
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Das "Russendenkmal" steht mit Berechtigung in der Wiener Innenstadt und erinnert an die gefallenen sowjetischen Soldaten. Warum es weiterhin bestehen bleiben wird, unabhängig von Einflüsterungen jeglicher Art.

Unter den zahlreichen russlandbezogenen Publikationen der vergangenen Wochen fiel mir gerade eine mit Wien-Bezug besonders unangenehm auf. Aufgrund des Artikels von Wolfgang Freitag in der “Presse” könnten die Leserinnen und Leser glauben, dass das Denkmal für die gefallenen sowjetischen Soldaten am Schwarzenbergplatz als etwas Gedächtnisstörendes und nicht in das moderne Bild der Hauptstadt Passendes bereits in Vergessenheit geraten sei oder jedenfalls unvermeidlich geraten werde.

Genau eine Woche später folgte vom Autor zwar eine Art korrigierende Ergänzung mit der Überlegung, wie der Schein oft über das Sein triumphiere. Und obwohl die Schlussfolgerung über die unbestreitbare Berechtigung für die Existenz des „Russendenkmals“ im Zentrum Wiens eher Hoffnung verleiht, ließen sich jedoch auch damit meine nachstehenden Bedenken nicht völlig zerstreuen.

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Im vergangenen Jubiläumsjahr 2020 wurde vor allem ein großes Datum erinnert: 75 Jahre Kriegsende. In Österreich gab es ein inhaltsvolles Programm von verschiedenen Gedenkveranstaltungen, was von einem hohen Niveau der Erinnerungskultur in der Republik zeugt.

Aktive Erinnerungskultur in Österreich

Eine derartige Erinnerungskultur ist genau das, was ich während meines Dienstaufenthaltes in Wien an den Österreicherinnen und Österreichern unter anderem zu schätzen lernte. Und dies gilt aktuell nicht nur für die hohe politische Ebene. Im Laufe der Zeit bildete sich hier in breiten Bevölkerungsschichten ein im Vergleich zu früher viel tieferes Verständnis für die harten Lehren der Geschichte - und zwar des Zweiten Weltkriegs - heraus. Ein Verständnis dafür, wie man verantwortungsvoll und behutsam selbst mit ihren finstersten Seiten umgehen soll. Weil, wie Bundespräsident Alexander Van der Bellen zutreffend betonte: „Ohne Erinnern an die schreckliche Vergangenheit gibt es keine humane Gegenwart“.

Die Zeit kann natürlich viele Wunden heilen. Ganz wichtig sind aber die dabei verwendeten Arzneien. Der Genesungsprozess darf keinesfalls mit einem (selbst meisterhaft servierten) Gedächtnisverlust vermischt werden, sonst wird es wirklich gefährlich für jede Gesellschaft, sonst schließt diese sich in einem gnadenlos wirbelnden Teufelskreis ein.

In einem Punkt stimme ich dem Autor grundsätzlich zu: Begriffe wie Erinnerungskultur dürfen nicht in Bronzetonnen und Metern gemessen werden. Dafür gibt es andere „Maßeinheiten“, wie zum Beispiel fast 27 Millionen sowjetische Bürger, die mit ihrem Leben für den Sieg über den Nazismus bezahlt haben, oder mehr als 70.000 zerstörte Städte und niedergebrannte Dörfer der Sowjetunion, oder Millionen in den Gaskammern von Mauthausen, Auschwitz und anderen KZs umgekommene Menschen. Gerade diese schrecklichen „Maßeinheiten“ müssen für uns alle maßgebend sein.

Österreich ist einen beschwerlichen und dornigen Weg bis zum bewussten Bekenntnis der Mitbeteiligung an den grausamsten Verbrechen in der Geschichte der Menschheit gegangen. Auch deswegen steht absolut berechtigt im Stadtkern Wiens das „Russendenkmal“. Dieses wird auch weiterhin bestehen bleiben, und zwar unabhängig von Einflüsterungen jeglicher Art an das österreichische Volk, dieses „zu vergessen“, „aus dem Bewusstsein verschwinden zu lassen“ oder „zu verdecken“. Denn die heutige Erinnerungskultur der ÖsterreicherInnen ruft tiefen Respekt hervor – und ich bin mir sicher, dass das auch so bleiben wird.

Dmitrij Ljubinskij (* 1967) ist seit August 2015 Botschafter der Russischen Föderation in Österreich.

E-Mails: debatte@diepresse.com

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