Sie hört auf, Fleisch, Zucker und Kohlenhydrate zu essen.
Hunger nach Liebe

Es geht bei Essstörungen nicht ums Essen

Während in den Medien über Hamsterkäufe und leere Supermarktregale berichtet wurde, versetzte ich mich täglich in eine Romanfigur, die an Bulimie leidet.

Als das Coronavirus Österreich erreicht, arbeite ich an einem Roman über Essstörungen. Wie viele Menschen an Magersucht, Bulimie, Binge Eating oder anderen Essstörungen leiden, ist schwer zu schätzen, da Betroffene oft erst nach Jahren Hilfe suchen und stets nur die Spitze des Eisbergs zu sehen ist. Literarische Bearbeitungen des Themas können leicht an einer Hand abgezählt werden. Während in den Medien über Hamsterkäufe und leere Supermarktregale berichtet wird, versetze ich mich täglich in eine Romanfigur, die an Bulimie leidet. Es geht nicht ums Essen, das ist meiner Bulimikerin mittlerweile klar. Sie weiß auch, dass sie etwas essen muss. Jeden Tag steht sie vor dieser Herausforderung. Nicht zu wenig, damit der Hunger nicht zu groß wird. Nicht zu viel, damit sie nicht die Kontrolle verliert – und so viel isst, dass sie alles wieder von sich geben muss. Sie weiß, dass der Hunger dann immer größer wird. Nur was zu viel und was zu wenig ist, spürt sie nicht. Schon lange nicht mehr.

Bulimische Patientinnen und Patienten entwickeln ein neurotisches Symptom, bei der sich der Triebdurchbruch im Essanfall und das Ungeschehenmachen im selbst-induzierten Erbrechen abwechseln. So erklärt es die Psychotherapeutin und -analytikerin Mag. Fatma Altzinger. Der Essanfall wird als Kontrollverlust erlebt, gefolgt von Scham, Schuldgefühlen und heftiger Wut gegen sich selbst, vor allem gegen den eigenen, hassbesetzten Körper.

Während ich die Bulimikerin in meiner Geschichte nach vielen Jahren Leidensdruck endlich zur Therapie schicke, kommt es in Österreich zum ersten Lockdown. Viele Therapeutinnen und Therapeuten unterbrechen ihre Arbeit, stationäre Einrichtungen für Patientinnen und Patienten mit Essstörungen müssen schließen. Bei Sowhat, einem Zentrum für Essstörungen, wird alles unternommen, um auf Telefontherapie umzustellen.

Gefährliches Horten

Der Bedarf ist hoch, auch ehemalige Patientinnen und Patienten melden sich, erzählt der Psychiater, Psychotherapeut und ärztliche Leiter von Sowhat, Dr. Kristof Argeny. Das Horten-Müssen von Lebensmitteln ist für Menschen mit Bulimie oder Binge-Eating-Störung gefährlich. Magersüchtige, die oft nur bestimmte Nahrungsmittel zu sich nehmen, fürchten um deren Verfügbarkeit. Sportkurse und Fitnesscenter, die vielen Essgestörten dabei helfen, sich regelmäßiges Essen zu erlauben, sind geschlossen. Fehlende Tagesstrukturen, Unsicherheit und Kontrollverlust im Außen erhöhen die Gefahr für essgestörte Personen, sich wieder auf das Essen zu fokussieren und in alte Muster zurückzufallen. Essstörungen sind oft mit Angststörungen verbunden, die durch die generelle Stimmung der Angst, existenzielle Ängste oder die Sorge um Angehörige verstärkt werden. Bei der Hotline für Essstörungen melden sich vermehrt besorgte Eltern, denen Verhaltensänderungen bei ihren Kindern auffallen, erzählt die Psychotherapeutin und fachliche Leiterin, Mag. Ursula Knell. Vor allem 13- bis 17-jährige Mädchen, aber auch Burschen sind betroffen. Die Einschränkung der sozialen Kontakte und der steigende Konsum sozialer Medien, das Sich-Vergleichen auf Foto- und Videoplattformen tragen bei Jugendlichen während der Pandemie verstärkt zu Essstörungen bei. Außerdem kann Homeschooling und Homeoffice bereits bestehende Spannungen innerhalb Familien intensivieren.

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