Energie

Österreichische Forscher machen Helsinki klimafit

Noch 19 Jahre gibt sich Wien Zeit, um die Fernwärmeversorgung, an der derzeit rund 410.000 Haushalte hängen, vollständig zu dekarbonisieren und damit die Klimaziele zu erreichen.
Noch 19 Jahre gibt sich Wien Zeit, um die Fernwärmeversorgung, an der derzeit rund 410.000 Haushalte hängen, vollständig zu dekarbonisieren und damit die Klimaziele zu erreichen.Clemens Fabry
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Know-how aus dem steirischen Gleisdorf hilft der finnischen Hauptstadt, Helsinki, bis zum Jahr 2035 klimaneutral zu werden. Der innovative, erst kürzlich preisgekrönte Ansatz: Meerwasser der Ostsee soll künftig die Hauptquelle der Fernwärme-Erzeugung sein.

Noch 19 Jahre gibt sich Wien Zeit, um die Fernwärmeversorgung, an der derzeit rund 410.000 Haushalte hängen, vollständig zu dekarbonisieren und damit die Klimaziele zu erreichen. In der finnischen Hauptstadt, Helsinki, hat man es eiliger: Schon in spätestens 14 Jahren muss das dortige Fernwärmenetz, von der Größenordnung her durchaus vergleichbar mit jenem in Wien, weitgehend ohne Energiegewinnung aus fossilen Brennstoffen auskommen, da unter anderen die beiden großen Kohlekraftwerke abgeschaltet werden.

Damit der Umstieg auf erneuerbare Energien gelingt, stellen Forscher aus Gleisdorf ihr Know-how zur Verfügung: Wissenschaftler des Instituts für nachhaltige Technologien (AEE Intec), das Teil des Forschungsverbunds Austrian Cooperative Research ist, entwarfen gemeinsam mit internationalen Projektpartnern ein Konzept, das die Wärmeversorgung der Metropole am Finnischen Meerbusen auf völlig neue Beine stellen und das Stadtbild erheblich verändern wird. Mit ihren Ideen setzten sich die Oststeirer Mitte März bei der Helsinki Energy Challenge gegen 250 eingereichte Projekte aus 35 Staaten durch.

Noch prägen die mehr als 100 Meter hohen Schlote der Kohlekraftwerke die Skyline in den Außenbezirken Salmisaari und Hanasaari. Rund 90 Prozent der Energie für die städtische Fernwärmeversorgung kommen von dort sowie aus der Verbrennung von Biomasse. Weil Finnland die Energiewende schaffen will, hat die Regierung das Aus für die beiden rund 50 Jahre alten Anlagen verordnet. Die Biomasse-Nutzung will man zumindest halbieren. Zwar ist der skandinavische Staat sehr waldreich, doch müssen Hunderte Tonnen Hackschnitzel quer durch das Land, das rund viermal so groß ist wie Österreich, wenig nachhaltig per Lkw transportiert werden.

Abwärme aus Industrie nutzen

Das Konzept der Österreicher wartet mit innovativen Alternativen auf: „Helsinki muss die Ostsee als Wärmequelle nutzen“, erklärt Ingo Leusbrock, Bereichsleiter bei AEE Intec. „Das Wasser hat eine konstante Temperatur von etwa acht bis zehn Grad. Mit Wärmepumpen kann man da große Energiemengen bereitstellen.“ Stockholm oder die norwegische Stadt Drammen nahe Oslo zeigen bereits seit einigen Jahren vor, dass die Fernwärmeerzeugung aus Meerwasser möglich ist. „In Helsinki bewegt sich das alles aber in einer ganz anderen Größenordnung, da wir die Entwicklung der gesamten Stadt in den nächsten Jahrzehnten betrachtet haben“, so Leusbrock. Ein Wärmespeicher mit dem mehrfachen Volumen der Wiener Stadthalle sowie einige kleinere Speicher sollen in der Lage sein, die Energie über mehrere Monate hinweg bereitzuhalten.

Zusätzlich sehen die Pläne der Gleisdorfer Forscher Solarfelder mit mehreren 100.000 Quadratmetern Fläche, die verstärkte Nutzung von Abwärme aus der Industrie, den Einsatz von Elektrokesseln sowie die Errichtung von kleinen dezentralen Fernwärmenetzen mit lokaler Energiegewinnung vor. Gesamt gesehen, soll dieser Maßnahmenmix eine Reduktion der Treibhausgas-Emissionen um rund 78 Prozent bewirken. Damit ist klar, dass sich mit der Energiewende auch das Stadtbild von Helsinki verändern wird. Leusbrock: „Für die Nutzung des Meerwassers wird man Anlagen in Hafennähe errichten müssen, möglicherweise auf nicht mehr genutztem Industriegelände.“ Für die Solarfelder könne man Böschungen entlang der Autobahnen nutzen. Helsinki will nun die Ideen der Österreicher mit jenen anderer Wettbewerbspreisträger kombinieren, um die bestmögliche Nachhaltigkeit zu erreichen.

In Wien bemüht man sich unterdessen ebenfalls um Diversifizierung der Fernwärmequellen. „Der Großteil kommt weiterhin aus den Müllverbrennungsanlagen“, sagt Wien-Energie-Pressesprecherin Lisa Grohs. „Aber im Bereich der Kraft-Wärme-Kopplung setzen wir künftig auf grünes Gas.“ In kleinem Maßstab verwirklicht man in Wien bereits Helsinkis Zukunftspläne: Die vor drei Jahren in Betrieb genommene leistungsstärkste Großwärmepumpe Mitteleuropas in Simmering nutzt unter anderem das Wasser des Donaukanals zur Wärmegewinnung. Und ab nächstem Jahr soll – unter Projektbegleitung durch AEE Intec – gebrauchtes Badewasser der Therme in Oberlaa rund 2000 Haushalte mit Wärme versorgen.

IN ZAHLEN

93 Prozent der rund 340.000 Haushalte in Helsinki sind an das Fernwärmenetz angeschlossen. Das Netz erstreckt sich über eine Gesamtlänge von 1230 Kilometern. Damit ist es exakt gleich lang wie jenes in Wien.

6 Grad Celsius
beträgt die Jahresdurchschnittstemperatur in Helsinki. Nur in den Monaten Juni bis September steigt die Quecksilbersäule im Mittel auf über zehn Grad.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.03.2021)

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