Anglistik

Dichtern beim Schreiben über die Schulter schauen

Dichtern beim Schreiben über die Schulter schauen
Dichtern beim Schreiben über die Schulter schauen(c) imago images/Panthermedia (NomadSoul via www.imago-images.de)
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Ein wachsender Anteil von Autorinnen, größere thematische und formale Vielfalt: Das sind nur einige Erkenntnisse einer wissenschaftlichen Zusammenschau zeitgenössischer britischer und irischer Lyrik.

Es hat das Zeug, ein Standardwerk über aktuelle Lyrik in Großbritannien und Irland zu werden: Das Buch „A Companion to Contemporary British and Irish Poetry 1960–2015“ (Wiley-Blackwell) gibt einen Überblick über bekannte und weniger bekannte Dichterinnen und Dichter der beiden Länder, befasst sich mit der Rezeption der Werke, unterschiedlichen literarischen Schulen und dem Literaturbetrieb an sich. Herausgegeben wurde es vom Salzburger Anglistikprofessor Wolfgang Görtschacher gemeinsam mit seinem Kollegen David Malcolm, der an der University of Social Sciences and Humanities in Warschau lehrt.

„Einen so umfassenden Überblick über die zeitgenössische Lyrik in den beiden Ländern hat es bisher nicht gegeben“, sagt Görtschacher, der als Experte für englische Gegenwartspoesie und deren Übersetzung auch den Kleinverlag Poetry Salzburg betreibt. Die Idee hinter dem Projekt war, neue Perspektiven auf den Lyrikbetrieb der beiden Länder zu werfen – vor allem auch mit dem Blick von außen. „Wir wollten uns nicht nur mit Bedeutung und Interpretation beschäftigen, sondern haben uns auch auf die formalen und technischen Aspekte konzentriert: auf Rhythmus, Metrik, Lautstrukturen, Zeilenlänge, phonologische Merkmale wie Reim oder Lauteffekte“, erläutert Görtschacher. Durch dieses sehr genaue Lesen und das Erfassen jedes einzelnen inhaltlichen, strukturellen und sprachlichen Textdetails komme man dem Entstehungsprozess nahe. „Es ist, als ob man dem Dichter oder der Dichterin beim Schreiben über die Schulter schaut.“

Ironie, Performance, Religion

Anhand dieser Dekonstruktion haben sich mehrere Typologien herauskristallisiert: Da gibt es beispielsweise technisch sehr komplex gebaute Texte, die sich an Ordnung und Unordnung abarbeiten. Eine andere Gruppe von Gedichten setzt Ironie als Störfaktor ein, um literarische und gesellschaftliche Traditionen zu thematisieren. Über Umgangssprache werden Perspektiven von den Rändern der Gesellschaft eingebracht. Insgesamt hat die Bandbreite sowohl bei den Themen als auch bei den sprachlichen Formen in den vergangenen Jahren zugenommen, beobachtet der Literaturwissenschaftler. Lyrik spielt vermehrt mit Elementen der Performance und spiegelt gesellschaftliche Entwicklungen: Waren in den 1960er-Jahren die Dichterinnen noch in der Minderheit, sind sie jetzt selbstverständlich und gleichberechtigt vertreten. An Bedeutung gewinnen auch Gedichte, die von ethnischen und sexuellen Minderheiten oder Migration erzählen. Im katholisch geprägten Irland spielt – anders als in Großbritannien – Religion in der Lyrik eine größere Rolle, sagt Görtschacher.

Er forscht auch zu jenen Rahmenbedingungen, die es braucht, damit ein lyrisches Talent auf dem Markt reüssieren kann. Da unterscheide sich der englischsprachige Literaturbetrieb stark von jenem im deutschsprachigen Raum. So könne man in Großbritannien und Irland das Fach „Creative Writing“ studieren – das sei Ausbildung und Vernetzung zugleich. Auch die vielen Kleinverlage hätten im englischsprachigen Raum eine große Bedeutung als Türöffner. Nicht zuletzt sei der irische Nobelpreisträger Seamus Heaney über Publikationen in kleinen Verlagen bekannt geworden.

LEXIKON

Nobelpreisträger Seamus Heaney ist einer der bekanntesten zeitgenössischen Lyriker aus Irland. Die Vielfalt der britischen und irischen Lyrik seit den 1960er-Jahren wird aber durch eine ganze Reihe von Namen geprägt: John Agard, Eavan Boland, Robert Sheppard, Edwin Morgan, Grace Nichols, Paula Meehan, Peter Riley oder Anne Steven-son. In „A Companion to Contemporary British and Irish Poetry 1960–2015“ befassen sich 43 Forscher aus neun europäischen Ländern mit diesen Autoren, ihren Werken und literarischen Schulen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.04.2021)

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