Interaktive Analytik

Heikle Mikroskopdaten reisen durch den virtuellen Raum

Johannes Rattenberger schützt Betriebsgeheimnisse unter dem Mikroskop.
Johannes Rattenberger schützt Betriebsgeheimnisse unter dem Mikroskop. [ ZFE ]
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Wenn man wegen Corona nicht gemeinsam im Labor forschen kann, dann streamt man Analysevorgänge eben per Video an Mitarbeiter und Auftraggeber. Wie das mit sensiblen Daten geht, zeigen Wissenschaftler vom Grazer Zentrum für Elektronenmikroskopie.

Das Zentrum für Elektronenmikroskopie Graz (ZFE) ist eine gefragte Einrichtung. Weltweit führende Unternehmen unter anderem aus der Automobilindustrie senden ihre Spezialisten in die Stadt an der Mur, wenn es darum geht, die Materialentwicklung zu forcieren – etwa die Bruchfestigkeit von Konstruktionsteilen zu untersuchen.

„Da schauen wir uns gemeinsam mit den Auftraggebern unter dem Elektronenmikroskop die Mikrostruktur an und versuchen, allfällige Schwachstellen zu eruieren“, schildert ZFE-Experte Johannes Rattenberger ein Beispiel aus dem Alltag – einem Alltag, den es seit Corona so nicht mehr gibt. „Derzeit ist es aufgrund der Covid-19-Maßnahmen nicht möglich, dass Vertreter unserer Kunden aus aller Welt hierher kommen.“

Damit drohen Forschungsaktivitäten für etliche Bereiche der Industrie auf der Strecke zu bleiben. Denn die Zusammenarbeit direkt am Mikroskop sei unerlässlich, sagt der Technische Physiker: „Wir bringen unsere Expertise in Sachen Analyse ein, der Auftraggeber, der sein Material am besten kennt, sein fachtechnisches Know-how.“

Aufnahmen live übertragen

Doch Not macht erfinderisch. So kommt den Grazern zugute, dass bereits vor Beginn der Pandemie das Projekt „Timely“ begonnen wurde. Dabei wurde nach Möglichkeiten gesucht, die Aufnahmen des Elektronenmikroskops in Echtzeit, hochauflösend und verschlüsselt im Rahmen von Videokonferenzen übertragen zu können. „Mittlerweile ist das System in Betrieb und wir erhalten ausgezeichnetes Feedback“, freut sich Projektleiter Rattenberger. „Unser Kalender ist gut gebucht.“

Das Übermitteln von Kamerabildern mag Technik-Freaks auf Anhieb nicht besonders aufregend erscheinen. Für die ZFE-Experten war es dennoch eine Herausforderung. „Das Mikroskop hängt an einem hochgezüchteten Steuerungscomputer ohne Peripherie oder gar Internetanschluss“, erklärt Rattenberger. „Jede Veränderung, jede Installation eines zusätzlichen Programms, würde die Gefahr eines Totalabsturzes bergen.“ Ein Elektronenmikroskop-System kostet über eine Million Euro, da nimmt man solche Risken ungern in Kauf.

Die Lösung: Das Videosignal wird elektronisch verdoppelt, eines der beiden Signale geht an den Bildschirm vor Ort, das andere in die mobile Übertragungseinrichtung. „Die hohe Auflösung der Übertragung war ebenso eine Voraussetzung wie die Verschlüsselung, denn immerhin geht es in der Materialentwicklung oft um Betriebsgeheimnisse.“

Aber nicht nur das Bildsignal wird übermittelt. „Gleichzeitig laufen auch Messinstrumente und Analysecomputer, die zu dem, was man sieht, die Zahlen und Daten liefern.“ Das kann beispielsweise wichtig sein, wenn es darum geht, die Rückstände in Filteranlagen zu analysieren. „Bei der Analyse von Feinstaubfiltern können wir unter anderem herausfinden, welche Schadstoffe vorhanden sind und ob sich dort, wo die Filter im Einsatz waren, eine Gesundheitsgefährdung ergibt.“

Vorteile auch nach Corona

Neben dem ZFE, einem Mitglied des österreichweiten Forschungszusammenschlusses Austrian Cooperative Research, beteiligen sich noch weitere Einrichtungen und Wirtschaftspartner an dem Projekt. Die Streaming-Technologie wurde mit dem Elektronikunternehmen Kapsch und Komponenten des Datenspezialisten Cisco umgesetzt. In Zukunft, so Rattenberger, wolle das ZFE weitere Bereiche der Auftragsforschung in den virtuellen Raum auslagern. „Das hilft den Großunternehmen unter unseren Kunden, die uns konsultieren, wenn sie mit ihrer eigenen Infrastruktur an die Grenzen stoßen, und den Klein- und Mittelbetrieben, die unsere Dienstleistungen in Anspruch nehmen, weil ein eigenes Elektronenmikroskop ihr Budget sprengen würde.“

Die Möglichkeit, die Bilder und Daten zu streamen, trage auch nach Corona dazu bei, dass Forschungspartner Zeit und Kosten für die Reisen nach Graz sparen können. „Und damit minimieren wir letztlich auch den CO2-Abdruck“, sagt Rattenberger. Darüber hinaus wolle man die Analysen – unter anderem durch Einsatz künstlicher Intelligenz – vertiefen und neue Routinen für eine schnellere Datenauswertung etablieren.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.04.2021)

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