Genozid

Leben im Schatten des großen Tötens

Peter Kufner
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4300 Roma und Sinti wurden in der Nacht auf den 3. August 1944 in Auschwitz-Birkenau getötet. Es wären die Letzten, glaubten ihre Mörder. Eine Rede anlässlich des Europäischen Gedenktags.

Zum Gedenktag möchte ich von einer Anthologie mit Gedichten sprechen, die vor drei Jahren in der Anderen Bibliothek erschienen ist. Sie trägt den schönen Titel „Die Morgendämmerung der Worte“. Es ist dies ein umfassender Atlas moderner Poesie, geschrieben von Roma- und Sinti-Dichterinnen und Dichtern, aus dreißig Ländern und in einundzwanzig Sprachen und Dialekten ins Deutsche übersetzt. Überbordend viele Gedichte europäischer Roma und Sinti finden sich darin: verstorbener, getöteter, überlebender und ihrer Kinder und Kindeskinder.

Es sind dies Gedichte voller Dunkelheit, Trauer, Schwermut. Gedichte, die vom Trauma geprägt sind, der Überlebensscham, entronnen zu sein. Gedichte, die an nahe Menschen erinnern oder hinaus wollen in eine Zukunft, in der das Erinnern gegenwärtig ist: eine schwere Bürde. Manche Dichter haben erst nach Auschwitz zu dichten begonnen.

Darunter sind auch Dichter und Dichterinnen, denen es gelang, den Diskriminierungen, Ausgrenzungen, der Vernichtung durch Flucht oder Migration auf andere Kontinente zu entgehen. An ihren Namen kann man sie zum Teil erkennen. Solche, die so mutig waren, anderswo ihr Glück zu suchen, wenn sie es in Europa verloren hatten. Was sage ich: Nicht nur ihr Glück hatten sie verloren, sondern ihre Familie. Und der Zusammenhalt war ihnen in ihrer angestammten Heimat durch die Schergen des Nationalsozialismus geraubt worden, auch die Zuversicht, im Schatten des großen Tötens weiterleben zu können.

Stolz auf die Herkunft

Aber in der Dichtung wird auch vom Bewusstsein, dem Selbstbewusstsein gesprochen, im Hier und Jetzt angekommen zu sein, sich zu wehren, Zutrauen zu haben zu den Werten der Mitmenschlichkeit, den Versprechen der Gleichheit in der Demokratie, der Ächtung jeglichen Rassismus. Es sind Gedichte von gegenwärtigen Sinti und Roma, die vom Stolz auf ihre Herkunft geprägt sind. Gedichte, die vor Fantasie und Lebendigkeit sprühen. Dies sind häufig Gedichte auf Romanes, der vielfältig ausgeprägten Sprache. Zum Stolz gehört auch: Das burgenländische Romanes ist von der Unesco zum immateriellen Weltkulturerbe erklärt worden.
In der Nacht vom 2. auf den 3. August 1944 wurden 4300 Sinti und Roma in Auschwitz-Birkenau ermordet. Es wären die Letzten, glaubten die Mörder. Und sie wollten bei ihrer Verabredung zum Menschheitsverbrechen nicht wissen, dass diese Menschen sich wehren könnten, dass sie nicht einfach Opfer sein wollten, sondern um den letzten Rest ihrer Würde zu kämpfen bereit waren. Die jüdische Ärztin Lucie Adelsberger war Ärztin im sogenannten Zigeunerfamilienlager und betreute die Kinder, so gut es eben ging. Von ihr stammt das vielleicht letzte und bewegendste Zeugnis über die jüngsten der Opfer:
„Die Kinder waren wie die Erwachsenen nur noch Haut und Knochen ohne Muskeln und Fett, und dünne pergamentartige Haut scheuerte sich über den harten Kanten des Skeletts überall durch (?). Aber die Not dieser Würmer schnitt noch mehr ins Herz. Vielleicht, weil die Gesichter alles Kindliche eingebüßt hatten und mit greisenhaften Zügen aus hohlen Augen guckten. Vor Hunger und Durst, Kälte und Schmerzen kamen die Kinder auch nachts nicht zur Ruhe. Ihr Stöhnen schwoll orkanartig an und hallte im ganzen Block wider.“

Neuer Antiziganismus

Diese Kinder hatten Mütter, Väter, ältere Geschwister, die dem grenzenlosen Elend der Kleinsten zusehen mussten. Über solche Kinder habe ich in meinem Roman „Geisterbahn“ geschrieben, und solche Überlebende wurden und werden immer noch von neuem Opfer des Antiziganismus, wenn sie sich zu ihrer Herkunft bekennen. Andere trauten sich nicht zu diesem Akt, meiden ihn immer noch, weil sie fürchten, dadurch benachteiligt, ausgegrenzt zu werden.
Wir in Deutschland vergessen allzu leicht, dass der Genozid an Roma und Sinti ganze Gemeinden und Gemeinschaften in allen von der Wehrmacht überfallenen und besetzten Gebieten zerstörte. Die Blockbildung Europas und der Kalte Krieg waren auch bequeme Barrieren, um die Augen fest vor dem Ausmaß der Katastrophe auf dem ganzen europäischen Kontinent zu schließen. Während in Deutschland die bitteren Stationen Diskriminierung, Kriminalisierung, Zwangssterilisation, Deportation und das Morden mit furchtbarer Konsequenz aufeinanderfolgten, hatten Roma in den südosteuropäischen Ländern nicht den Hauch einer Chance: Der Genozid tobte voraussetzungslos.

Mit diesem Europäischen Gedenktag öffnet sich der Blick – auf die Verwüstungen. Gleichzeitig ist er ein Appell zum Hinhören auf die neuen Vorurteile, Restriktionen, auf Missachtung, auf Hass – und auch zu der Bürgertugend, Hilfe zu leisten, den neuen Armen, die aus Südosteuropa kommen, beizustehen. Denn wo sollen sie bleiben – ohne eine Bleibe im fremd gewordenen Vertrauten?

Zur Person

Ursula Krechel (geboren 1947 in Trier) erzählt im Roman „Geisterbahn“ vom Schicksal einer Sinti-Familie im 20. Jahrhundert. Die Trägerin des Deutschen Buchpreises 2012 wurden vom Zentralrat der Sinti und Roma eingeladen, beim virtuellen Holocaust-Gedenktag am 2. August eine Rede zu halten.

Die Rede auf Video:

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