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Europakongress

Zwei Prozent Inflationsrate nicht mehr sakrosankt

Expertentalk 1. Gudrun Egger und Franz Schellhorn üben Kritik an der EZB wegen der Strategie des billigen Geldes – zugunsten verschuldeter Staaten und zulasten kleiner Sparer.

Seit etlichen Jahren verfolgt die Europäische Zentralbank (EZB) eine nahezu Null-Zinspolitik, jetzt hat sie zwei Prozent Inflation nur mehr als „symmetrisches Ziel“ definiert. Für Gudrun Egger, Head on Major Markets and Credit Research der Erste Group, ist die Intention der EZB für diese Vorgehensweise, weil im Euroraum die „wirtschaftlichen Kapazitäten nicht ausgelastet sind, der Arbeitsmarkt sich in einer schwachen Verfassung präsentiert, die Inflation niedrig ist und die Zinsen nahe an der unteren Grenze liegen“. Egger lieferte dieses Eingangsstatement bei einem Expertengespräch im Rahmen des Europakongresses, an dem sie neben Franz Schellhorn, Geschäftsführer der Denkfabrik Agenda Austria, unter der Diskussionsleitung von Madlen Stottmeyer, Wirtschaftsredakteurin „Die Presse“, teilnahm.

Franz Schellhorn, Agenda Austria.
Franz Schellhorn, Agenda Austria.Beigestellt

Bestrafung der Sparer

All das komme einer Bestrafung des kleinen Sparers gleich, der – wie Schellhorn sarkastisch vermerkte – nicht so wichtig wie stark verschuldete Staaten sei. „Es ist bemerkenswert, in welche Richtung sich die EZB entwickelt hat: Bei Einführung des Euro war Geldwertstabilität oberstes Ziel, die Inflation sollte bei maximal zwei Prozent liegen. In einigen Ländern steigt die Inflation bereits an, man müsste mit höheren Zinsen nun gegensteuern. Das wäre aber ein Dilemma für stark verschuldete Staaten wie Griechenland, Italien oder Frankreich. Die EZB betreibt somit eine indirekte Staatsfinanzierung, was nicht gestattet ist.“

Laut Schellhorn würden die Österreicher noch immer stark am Sparbuch hängen, denn Aktien wären – ihrer Meinung nach – ein Werk des Teufels. Egger wollte die Handlungsweise der EZB nicht verteidigen, riet aber dazu, die Lage von verschiedenen Seiten zu betrachten. „Ja, die lockere Geldpolitik hätte unerwünschte Nebeneffekte“, argumentierte die Ökonomin. „Ja, die Staaten haben dadurch weniger Druck, Reformen umzusetzen, und ja, Corona brachte manche Staaten in eine Finanzkrise, aus der sie nun herauswachsen müssen.“ Die EZB empfehle den Staaten seit vielen Jahren, Strukturreformen umzusetzen. Die Zentralbank könne aber nicht alles regeln.

Zinsen sinken gegen null

Laut Schellhorn machen die Bürger nicht immer das, was ökonometrische Modelle vorsehen. „Wenn die Zinsen gegen null sinken, sollte man annehmen, dass mehr ausgegeben wird. In Österreich geschieht genau das Gegenteil: Es wird mehr gespart, um im Alter einen gewissen finanziellen Polster zu haben.“ Auch wurde erwartet, dass Regierungen aufgrund des Anleihenkaufprogramms Strukturreformen einleiten. Dem war nicht so, beklagte Schellhorn. „Man nahm das billige Geld, um den öffentlichen Konsum zu erhöhen, nicht um zu reformieren. Bestärkt noch durch das Versprechen der EZB, dass kein Staat pleitegehen werde.“ So wurde vor allem in den Jahren 2013 bis 2021 der staatliche Schlendrian weiterfinanziert. Jetzt, während der Coronakrise wäre nicht der richtige Zeitpunkt, die staatlichen Haushalte zu sanieren. Der EZB warf Schellhorn vor, eigene Versprechen, gebrochen zu haben. Jetzt fehle es an Glaubwürdigkeit.

Alternatives Szenario

Egger schlug vor, ein paar Jahre zurückzugehen und ein alternatives Szenario durchzuspielen: „Die EZB hat ein Instrumentarium, mit dem sie argumentieren kann: Zinssätze und Anleihenankäufe. Diese Ankäufe haben am Markt sehr gut funktioniert. Wäre es nicht so gemacht worden, hätte es eine längere Krise mit schweren Folgen für den Arbeitsmarkt gegeben.“

Die Analystin der Erste Group erwähnte auch den EU-Wiederaufbaufonds, mit dem es nun klare Bedingungen gebe, wofür die Neuverschuldung genutzt werden muss, damit tatsächlich in zukünftiges Wachstum investiert werde.

Schellhorn sah den Wiederaufbaufonds nicht so optimistisch, weil beispielsweise Italien und Spanien viel zu wenige zukunftsgerichtete Projekte eingereicht hätten. „Ohne Sanktionsmechanismus wird es keine Konsequenzen geben, wenn das Geld trotzdem wieder in die Finanzierung von Pensionen gesteckt wird. Das könnte auch als ein Zukunftsfaktor argumentiert werden.“ Für Schellhorn wäre Österreich gut beraten, das Geld aus dem Wiederaufbaufonds in den Aufholbedarf im Bereich der Digitalisierung zu investieren: „Während des Lockdowns saßen in der öffentlichen Verwaltung die Beamten bei vollen Bezügen zu Hause und hatten zu Beginn keinen Zugang zu den Servern ihrer Dienststellen.“ Als gutes Beispiel nannte der Agenda Austria-Chef Estland, wo die Digitalisierung in der öffentlichen Verwaltung bereits weit fortgeschritten sei. „Wäre ich die EZB, würde ich Estland trauen, Italien und selbst Österreich nicht, weil diese Länder immer wieder von Reformen sprechen, aber wenig geschieht.“

Höhere Löhne

Die steigende Inflation hat auch starke Auswirkungen auf die Lohn-/Preisspirale. Beide Experten waren sich einig, dass die nächste Kollektivverhandlungsrunde zeigen wird, inwieweit Forderungen nach einem höheren Lohn realisiert werden können. „Vor allem aufgrund des Facharbeitermangels muss etwas bei den Löhnen passieren“, meinte Egger. Schellhorn betonte, dass sich bei den Verhandlungen die Arbeitnehmer erfahrungsgemäß durchsetzen werden. Der Druck auf höhere Lohnabschlüsse wird auch deshalb steigen, weil das Wohnen immer teurer wird. Vor allem junge Familien, die einen Haushalt gründen wollen, müssen zurzeit sehr hohe Wohnungsmieten bezahlen. Laut Egger werde sich das erst ändern, wenn das Angebot schneller wachse als die Nachfrage, was in Wien teilweise schon der Fall sei. Immerhin gab es kürzlich bereits einen Rekord an neuen Baugenehmigungen.

INFORMATION

Der Europakongress 2021 ist eine Veranstaltung von „Die Presse“ und wird von Erste Group unterstützt.

Mehr Informationen: www.diepresse.com/europakongress

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