Die Würde, die gibt es nicht

Immer alleine, immer schüchtern, homosexuell und voller Sehnsucht nach der Schönheit der Kunst: Rolf Rameder, chronisch depressiv, schwankend zwischen Selbsthass und Selbstmitleid. Jetzt spricht er – endlich: „Der verlorene Sohn“.

So etwas wie einen freien Willen habe ich nicht. Das ist mir zu vulgär.“ Da habe ich ja noch mal Glück gehabt. Ich komme in Rolf Rameders Buch nicht vor, ich habe ihn nie „behandeln“ müssen, es hätte aber gut sein können, dass wir uns auf psychiatrischem oder psychoanalytischem Boden begegnet wären. Rameder ist Patient – chronisch depressiv, vereinsamt, arm und nicht imstande, sein Leben voranzubringen, die Wirklichkeit und sich selbst positiv zu besetzen, von Selbsthass und Selbstmitleid ebenso zerfressen wie von Hass und Häme auf die ihn umgebende österreichische Wirklichkeit, insbesondere jedoch getrieben und gehalten von der Wirklichkeit der Therapeuten und Psychiater. Er ist einer von den wahrscheinlich nicht ganz wenigen Menschen, die das verwahrloste System der Sozialpsychiatrie in Wien in die verwahrloste Einsamkeit schäbiger Gemeindewohnungen entlassen hat, wo sie nun vor sich hingammeln, unbegleitet, unverstanden und unbedacht.

Dieser Mensch allerdings hat eine vernehmbare Stimme, die er nun auf 158 Seiten in diesem bemerkenswerten Buch hören lässt, das in dem kleinen Verlag des Psychotherapeuten Theodor Itten erschienen ist – was natürlich auch eine feine Ironie enthält.

Rameder schreit ziemlich laut – in Richtung Adolf Holl, an den sich der ganze Text richtet und der ihm auch im realen Leben seit 20 Jahren zuhört: „Sonntag, 16. September 2007, 19 Uhr 36. Sehr geehrter Herr Dr. Holl! Ich plane für morgen früh einen Sprung aus dem Fenster, weil ich das Leben, das ich habe, nicht mehr aushalte.“ Die folgenden, ersten fünf Seiten setzen die Themen: Entsetzliche, systematisch durchbrutalisierte Kindheit an der österreichisch-tschechischen Grenze, „das war alles noch Krieg“. Bücher, Bilder und Fantasien wurden ein heimlicher Ausweg (die Bücher unter dem Bett der Eltern in einem Koffer versteckt!) – keine Menschen, die ihn mit Zuversicht und Liebe betrachtet hätten, sodass das Lesen, das Fantasieren und die Bilder hätten angebunden werden können an eine Selbstsicherheit im Leben. Immer alleine, immer einsam, immer schüchtern, homosexuell, immer voller Sehnsucht nach der Schönheit des Lebens, der Kunst; er findet sie, die Schönheit, nirgendwo in der Gegenwart, bei niemandem und nirgendwo – er verachtet das Kino, er schäumt über das Fernsehen, er zerschneidet das Kabel des Radios. Er liest und liest und schaut und schaut, kauft Bücher und Bücher über Renaissance-Kunst und ist ein Experte, aber kein kühler, er ist ein Liebhaber, der das ganze, das einzige Leben in den Bildern findet, bei Cimabue und Lorenzetti, Raffael (der Größte!) und Giorgione, den er auch dem Holl erklärt. Die Bilder sind das Reich der Liebe und der Sinnlichkeit, von zärtlicher und konstanter Hingabe – ein Ersatz für das isolierte Leben, in dem ihm Verbindungen zu den anderen Menschen nicht und nicht gelingen wollen. Er nennt dieses Reich auch seine Religion: „Trost, Andacht, Sammlung, Schönheit, Pracht, Gesellschaft, Zugehörigkeit. Wenn ich das Buch wieder zuklappe, ist die Religion wieder weg.“

Er hat einen durch und durch einseitigen Blick auf die Wirklichkeit, unerbittlich und unversöhnlich, doch nicht von oben herab, wie Thomas Bernhard, den er natürlich verachtet, sondern von unten, aber auch nicht herauf, denn das gibt es auch nicht, das ober ihm. Sehnsuchtsvoller, unglücklicher Neid beherrscht ihn vor den Bildern glücklichen Lebens, die er bei Menschen auf der Straße wahrnimmt, und er muss weinen und sich in das alte Bett in seiner schäbigen Wohnung zurückziehen und schlafen und von den Erinnerungen geplagt nochmals weinen. Er sei, sagt er, „Müll, Abfall, Muselmane, Dreck“. Aus der Perspektive des Staubes aber sieht er scharf, und wenig an gesellschaftlichen Lügen und Beschönigungen entgeht den Invektiven.

Rameder ist ein Denker, hinter seiner Isolierung und Verbindungslosigkeit, dem lapidaren Bericht, der im Tonfall zwischen den Erinnerungen an Faktisches und Reflexionen und Gedanken keinen Unterscheid macht und gerade deswegen einen starken Zug entwickelt, tut sich sofort die Gesellschaftskritik auf, auch das erinnert an Thomas Bernhard, durchaus auch in der Kraft der Prosa, in der die Erfahrung versammelt wird. „Die Christen haben vom Christentum keine blasse Ahnung mehr und lassen sich wie Schafe an die Schlachtbank des modernen Lebens führen.“ „Wissen Sie, Holl, was die Massen- und Medienkultur aus den Menschen macht? Ich glaube, es ist Abfall, Dreck. Sehe ich mir freiwillig einen Schwulenporno an, um zu onanieren? Das ist alles ein und dasselbe Register. Du sollst nicht merken, ist dazu das Kommando. Und all das ist Psychologie: Sie verunstaltet den Menschen. Eine reine Hör- und Denunziationswissenschaft.“ „Die Würde des Menschen, Holl, ich glaube, die gibt es gar nicht. Wann denn, zwischen halbzwei und halbvier? Dienstag, Freitag oder nur am Sonntag? Und nur in einer Boutique oder auch im Supermarkt? Wenn es sie gibt, dann muss man sie zugesprochen bekommen, in Empfang nehmen dürfen wie ein Geschenk oder einen Gast.“

Dieses Buch ist stark, und es sollte gelesen werden, als Geschenk eines Menschen an uns, die in Ikea-Sozialdemokratie-Psychologie-Ideologie Ertrunkenen, die Menschen wie Rolf Rameder, aber auch unseren ausländischen Mitbürgern das Geschenk der Würde täglich systematisch verweigern. ■


Am Dienstag, 19. Oktober, stellt Rolf Rameder um 19 Uhr sein Buch in der Österreichischen Gesellschaft für Literatur, Wien I, Herrengasse 5, vor. Adolf Holl spricht mit dem Autor über sein Buch.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.10.2010)

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