Expedition Europa

Das Kollektiv hat's schon ausdiskutiert

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In Portugal wird die Regelung der Sterbehilfe von einer Regierung zur nächsten geschoben. Die Haltung der Kommunistischen Partei überrascht.

Geschlagene zwei Jahre wollte ich über Sterbehilfe in Portugal schreiben, trotz bester Kontakte bekam ich aber nie ein Interview dazu. Die portugiesische Entwicklung ist so spannend wie nirgends sonst: Mal wurde ein Referendum angekündigt, dann stimmte doch mehrmals das Parlament ab, im Herbst gab es zweimal eine Mehrheit für „eutanásia“. Als dann die Minderheitsregierung der sozialdemokratischen PS stürzte, legte der konservative Staatspräsident ein Veto ein und schob das Euthanasiegesetz dem nächsten Parlament zu.

Die Frontstellungen im Lusitanischen sind ungewöhnlich: Die große rechtsliberale Oppositionskraft PSD ist gegen Sterbehilfe, ihr Vorsitzender aber dafür, die Rechtspopulisten dagegen, die Liberalen dafür. Die seit 2015 regierende PS ist dafür, der post-trotzkistische Bobo-„Linksblock“ inbrünstig dafür, die außerparlamentarischen Maoisten sind rabiat dagegen – der Staat bekäme „das Recht, alte, kranke und unheilbare Menschen zu töten“. Mich interessiert die Kommunistische Partei Portugals. Die PCP, die dem Marxismus-Leninismus auch nach dem Fall der Sowjetunion nicht abgeschworen hat, ist eine kompakte, für Souveränität und gegen den Euro auftretende Sechs-Prozent-Partei. Sie ist strikt gegen Euthanasie.

Ich gehe zur Parteizentrale. Ein ödes Lissabonner Neubaugebiet, giftfarbene Wohnblöcke, ein Stadtautobahnkreuz mit einem Hotelturm und Firmensitzen, mittendrin ein wuchtiger Büroblock. Das post-kubistische Wandmosaik „Revolução“ zeigt unter anderem einen Kleintraktor unter blauem Himmel, gesteuert von einer jungen Traktoristin mit Wuschelkopf und weißem Sweater. Ich trinke mir mit drei Espressos Mut an, dann stehe ich vor der Empfangsfrau und kündige an, nicht wegzugehen, bevor mir nicht irgendwer die für europäische Linke ziemlich ungewöhnliche PCP-Position zur Sterbehilfe erklärt hat. Ich darf in der verwinkelten Lobby warten.

Die Ästhetik ist hochsowjetisch, nur dass ich am absolut entgegengesetzten Ende Europas sitze und keiner Russisch kann. Rot gepolsterte Sitzgruppen vor einer glänzend lackierten Holzvertäfelung. Ein Bücherpult. Ein fotografisches Wandbild, das einen in eine runde, vor Genossenmas-sen und roten Fahnen berstende Riesenkongresshalle hineinzieht. Eine Kaffeebar, unten holzgetäfelt, oben warmweiß beleuchtet. Die Wahlplakate zu den Neuwahlen am 30. Jänner stellen den volksnahen Massencharakter der Partei heraus. Forderungen: „Kinderkrippen gratis“, „das Gesundheitssystem retten“. Dieses System, „eine Errungenschaft der Nelkenrevolution“, will die PS laut PCP in einen teilprivatisierten Gesundheitsdienst verwandeln.

Ein Funktionär setzt sich zu mir. Ein ernster Intellektueller, beiger Pullover über hellblauem Hemd, er will anonym bleiben. Er erklärt mir, dass das Thema im Wahlkampf keine Rolle spielt. Die Gründe, warum die PCP Sterbehilfe ablehnt, seien andere als die der rechten Parteien und der Kirche: „Die Kirche sagt, die Entscheidung über das Lebensende obliegt nicht dem Menschen, für uns ist das sehr wohl eine menschliche Entscheidung. Die Pflicht einer fortschrittlichen Gesellschaft ist es, die Rechte und Lebensbedingungen der gesamten Gesellschaft sicherzustellen. Wenn eine Gesellschaft das nicht sichergestellt hat, ist es unzulässig, dass sie stattdessen als Option den Tod anbietet.“ Die Palliativmedizin sorge dafür, Leiden zu verhindern.

Für die PCP sei das „kein Modethema, unsere Genossen haben es schon in der Illegalität der Sechzigerjahre diskutiert“. Er sagt gern „kollektiv“, „wir haben kollektiv über diese Frage entschieden“, „die PCP hat stets einhellig und kohärent gegen Euthanasie gestimmt“. – „Könnte man die Abgeordneten nicht frei abstimmen lassen?“ – „Wir haben die Freiheit, das nicht zu tun.“ Als ich die PCP mal „orthodox“ nenne, fährt er mir in die Parade: „Wir sind antidogmatische Leninisten. Lenin selbst war nicht dogmatisch.“

Er reicht Positionspapiere der PCP an mich weiter, maßgeblich entwickelt vom Abgeordneten und Juristen António Filipe. Die PCP warnt, dass in Ländern mit legaler Sterbehilfe „die Zahl der assistierten Todesfälle weit über das angenommene und vorhersehbare Maß hinaus gestiegen ist“ – auf „vier Prozent der Todesursachen“ in den Niederlanden. „Was hier entschieden wird, ist nicht die individuelle Entscheidung jedes Einzelnen über das Ende seines Lebens, sondern die Haltung des Staates zur letzten Lebensphase seiner Bürger.“

Ich frage den Funktionär, ob auch der hohe Altersschnitt der PCP-Wählerschaft zur PCP-Position beigetragen hat. Erschreckt die Vorstellung eines staatlich assistierten Todes betagte Genossen? Er lacht auf: „Diese Idee höre ich zum ersten Mal! Ja, wir haben viele ältere Kader, die mit ihrer reichen Erfahrung an der kollektiven Entscheidungsfindung teilnehmen.“ Nein, die PCP-Wähler bewegt das Thema wenig.

Ich weiß jetzt alles Wichtige, auch dass portugiesische Genossen mit „Olá, Camarada“ grüßen. Ich will aber noch nicht gehen, will die rote Geborgenheit noch auskosten. Ich kaufe den schweren Jubelband zu 100 Jahren PCP und – „nicht mehr aktuell“, schmunzelt der Funktionär – eine klassisch schöne Broschüre mit den Aufsätzen Lenins über Portugal. Schließlich nehme ich noch einen Kaffee zum Volkspreis von 55 Cent. Mir fällt auf, dass an der gut besuchten Kaffeebar nicht viel geredet wird. Vielleicht stören die viel getragenen OP-Masken. Oder das Kollektiv hat's schon ausdiskutiert.

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