Jeder scheint ein klares Bild davon zu haben, wie es auf einem Campus zugeht. Studenten der Columbia University.
Universität

Die Mär vom Hort der Cancel Culture

Auf einem US-Campus treffen alte und junge Menschen aufeinander, die in anderen Kategorien denken und andere Lebenserfahrungen mitbringen. Das ist spannend, quirlig und kompliziert. Bericht eines Lehrenden.

Wer an einer kalifornischen Uni lehrt, macht eine gleich doppelt unheimliche Erfahrung: Jeden Tag wacht er in einer Umgebung auf, die andere Menschen, oft eine halbe Welt weit weg, meinen besser beschreiben zu können als er selbst. Rechtlosigkeit, Gewalt einerseits, ein quasi-totalitärer Staat andererseits – mit diesem Kalifornienbild leben viele. Der Protest, man lebe ja hier und nehme das ganz anders wahr, wird weggebügelt. Und auch über amerikanische Unis scheinen alle bestens Bescheid zu wissen, ja sie bemühen sogar ganz ähnliche Topoi: Der Campus in ihren Köpfen ist anarchisch und totalitär zugleich, regelfixiert und doch rechtlos, von „Amok laufender Political Correctness“ geprägt. Als der Autor sich, zugegebenermaßen etwas unakademisch, im Frühjahr mit einem Twitter-Meme darüber lustig machte, wie viele selbst ernannte Experten für amerikanische Unis im deutschen Feuilleton unterwegs sind, musste er sich von einem Professor aus dem süddeutschen Raum sagen lassen, er habe „offensichtlich noch nie einen Campus in den USA betreten“. Zu mächtig die Erzählung, als dass die störrische Einzelbeobachtung gegen sie anzugehen wüsste.

Die Entgegnung des süddeutschen Professors mag ein Extrembeispiel sein, aber diese Art Reaktion ist symptomatisch für die Art, mit der im öffentlichen Diskurs mit dem Leben auf „dem“ US-Campus umgegangen wird. Was immer sonst hinter der Panik um „Cancel Culture“ und „Critical Race Theory“ stecken mag: Sie spricht dem Gros der auf dem Campus lebenden und arbeitenden Menschen schlichtweg ab, dass sie ihre Lebenswelt selber adäquat deuten und reflektieren können.

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