Culture Clash

Heiliger Zeitgeist?

Über die deutsche katholische Reformdiskussion, die Anpassung an das Heute und G. K. Chestertons Sicht auf die „entwürdigende Sklaverei, ein Kind seiner Zeit zu sein“.

Die katholische Kirche ist das Einzige, das einen Menschen vor der entwürdigenden Sklaverei rettet, ein Kind seiner Zeit zu sein“, sagt Gilbert K. Chesterton. Ich zitiere ihn (auch wenn ich das jeder Offenbarungsreligion zutraue, die ein Lehramt hat, das sich am Überlieferten orientiert), weil in Deutschland Äußerungen von Bischof Voderholzer zum Zeitgeist Wirbel machen. Der Regensburger Bischof hat beim „Synodalen Weg“ – dem aktuellen deutschen Versuch, die katholische Kirche umzukrempeln – über den missbrauchsverharmlosenden Zeitgeist der 70er gesprochen. Und dass die Kirche diesem eher nachgegeben habe, als „sich um Recht und Gerechtigkeit zu bemühen“. Er, Voderholzer, wolle heute nicht denselben Fehler machen – wobei er jene von ihm schon oft beargwöhnte „Anpassung“ an den heutigen Zeitgeist meint, der Priesterehe, Frauenpriester und eine andere kirchliche Sexualmoral fordert.

Was das Argumentieren mit dem Zeitgeist betrifft, bin ich skeptisch. Nur weil etwas dem Zeitgeist entspricht, muss es ja noch nicht falsch sein – ebenso wie nichts deshalb schon wahr ist, weil eine Mehrheit es wünscht. Aber es ist schon gut, sich daran zu erinnern, dass jede Zeit ihre Vorstellungswelt für einen Fortschritt und daher für gut hält. Und unsere Kinder sich daher bei manchem an den Kopf greifen werden, was uns heute als offenkundig richtig und wichtig erscheint. Ein extremes Beispiel ist der Druck, den deutsche Katholiken 1941 im Anschluss an das Volkssentiment – gottlob vergebens – auf die Bischöfe ausgeübt haben, um dafür zu sorgen, dass Katholiken mit Judenstern beim Gottesdienst in separaten Bänken sitzen müssen.

In jedem einzelnen Fall muss sich eine Religion wie die katholische fragen, ob ein Abgehen vom Überlieferten wirklich einer tieferen Einsicht in den Willen Gottes entstammt – den der aktuelle gesellschaftliche Mainstream widerspiegeln, aber auch nur vorgaukeln kann. Weil ja der Mensch in sich stimmig bleiben möchte und daher dazu neigt, die momentane Mehrheitskultur, der er sich vielleicht nur aus Liebesbedürftigkeit und Isolationsfurcht angeschlossen hat, auch als Richtschnur für das bleibend Wahre anzuerkennen. Der Rekurs auf den Zeitgeist allein ermöglicht also kein zuverlässiges Urteil. Aber man muss ihn in Rechnung stellen und ebenso die ihm eigene Versuchung: eine Religion so zu „verbessern“, dass sie zu dem passt, „wie wir heute sind“.

Das macht nach Chesterton eine Religion nicht attraktiver, sondern obsolet – denn um so zu sein, wie wir schon sind, brauchen wir sie nicht.
Der Autor war stv. Chefredakteur der „Presse“ und ist nun Kommunikationschef der Erzdiözese Wien.

meinung@diepresse.com

www.diepresse.com/cultureclash

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.02.2022)

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